»Die Sache mit dem Mars wollen wir gleich haben!« meinte Michel und lehnte zum Fenster heraus. Einen Augenblick starrte er zum Himmel, drehte sich dann kurz herum und schnarrte: »Auf dem Mars leben keinerlei Wesen. Die sogenannten Kanäle sind Früchte erhitzter Phantasie, nichts als Schatten von Bergen. Und damit ist die Angelegenheit ein für allemal erledigt!« »Aber, Herr Michel! …« wagte ich zu stammeln, »so schnell? Und Sie haben ja nicht einmal ein Fernrohr benützt!« »Ich besitze Gott sei Dank zwei gesunde Augen und brauche keinerlei Fernrohre!« lächelte Herr Michel überlegen. »Aber, Herr Michel! Wenn man eine wissenschaftliche Frage entscheiden will, so muss man doch erst die Forschungen anderer kennen, muss sich der Hilfsmittel bedienen, welche die Wissenschaft bietet, muss …« »Unsinn! Unsinn!« unterbrach mich Michel ungeduldig. »Ich bin mit einem gesunden Menschenverstand ausgerüstet, auf daß ich erkenne … ich besitze meine eigenen gesunden Augen mit zwei scharfen, angeborenen Linsen, auf daß ich sehe … was brauche ich da die Hilfe anderer? Selbst ist der Mann! … Der Mars ist und bleibt unbewohnt! Und damit fertig!« »Aber, Herr Michel! … es ist doch heller Tag … die Sonne scheint am wolkenlosen Himmel … und wir alle wissen, daß der Mars sich im Lichte der Sonne vor dem menschlichen Auge verbirgt!« … »Verbirgt sich?« höhnte Michel. »Sehen Sie, da haben wir ja schon den Schwindel. Bedarf des Dunkels und scheut das Licht! Nicht wahr? Zeichen der Ehrlichkeit! … Wollen Sie noch einen klareren Beweis, daß die ganze Geschichte Schwindel ist?« … »Aber, Herr Michel! … Der italienische Astronom Schiaparelli …« »Ausländer! Gehen Sie mir mit den Ausländern! Wir haben deutsche Wissenschaft … Was brauchen wir die Ausländer!« … »Aber, Herr Michel! … Entschuldigen Sie doch nur … Sie haben ja gegen Süden gesehen, während der Mars dort drüben stehen muss … hinter diesem Hause … durch die Wände verdeckt … gegen Norden!« Da wurde Herr Michel zornig. »Die Richtung meiner eigenen Forschung werde ich mir selber wählen! Darüber brauche ich mich nicht von anderen belehren zu lassen! Um es kurz zu machen: Wenn Sie vorgeben oder auch nur die Möglichkeit annehmen, daß der Mars bewohnt ist, daß sich auf demselben die künstlichen Kanäle eines Schiaparelli befinden … daß sich alle diese wunderbaren Mysterien vor der Sonne verbergen müssen, um nur im Dunklen existieren zu können, dann … ja dann, ja, ich muss es gerade heraus sagen, denn die Wissenschaft darf keine Höflichkeit kennen … dann sind Sie ein Betrüger oder ein Verrückter! … Jedenfalls verlangen Sie nicht von mir, daß ich ebensolch ein Hornochse sei, wie Sie!« … * Herr Michel hat gestern gelebt und heute. Am Südpol, am Nordpol, und dazwischen. Überall dort, wo der Mensch hinkommt mit seiner Qual. Herr Michel wird dieses Büchlein verächtlich beiseite werfen und mir zurufen: »Was bedarf ich der Forschung? Was bedarf ich des Fernrohrs und anderer wissenschaftlicher Instrumente? Was bedarf ich der Zeugnisse anderer? Habe ich nicht selbst zwei scharfe Augen und einen unübertrefflichen Verstand? Und wenn ich bei Tageslicht zum Himmel schaue gegen Norden, auch wenn der Mars gegen Süden sieht, so beanspruche ich das Recht endgültigen Urteils und verachte die Worte: Allah weiß es besser!« … Herr Michel sitzt auch heute auf vielen akademischen Lehrstühlen, in vielen Redaktionsstuben großer und kleiner Zeitungen, nimmt teil an vielen gelehrten Versammlungen und kirchlichen Konzilen. Dass Gott erbarm! Er hat eine große Rolle in der Weltgeschichte gespielt (zuletzt in Versailles). Er lebte und entschied damals: Als Sokrates (geb. 470 v. Chr.) den Giftbecher leeren mußte, weil er die ewige Wahrheit kündete, daß der Tod an und für sich kein Übel sei, daß aber die Schuld das größte aller Übel darstelle. Ganz besonders wurde ihm auch die Lehre verdacht, daß die höchste Weisheit des Menschen in der Erkenntnis gipfelt, daß unser Wissen unsicher und Stückwerk sei. Als Anaxagoras 500 v. Chr. vertrieben wurde, weil er die Unveränderlichkeit des Stoffes, die unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Materie erkannte, den leeren Raum leugnete und behauptete, daß die Sonne viel größer sei als der Peloponnes. Als Plato und Archimedes, Hipparch und Ptolemäus gegen die Lehre des Pythagoras (geb. 570 v. Chr.) wetterten, daß die Erde sich drehe und Ptolemäus diese Lehre bezeichnete als »im höchsten Grade lächerlich«! Als im Jahre 1306 König Eduard I.
das Verbrennen von Steinkohle verbot, wegen »des Rauches und üblen Geruches«. Als Christoph Kolumbus (geb. 1447) von dem Kirchenkonzil zu Salamanka mit dem Bannstrahl belegt wurde, weil er im Gegensatz zu den Büchern Mosis, den Psalmen, den Propheten und Kirchenlehrern die Behauptung wagte, daß die Erde rund sei. Als Kopernikus (geb. 1473) von kirchlichen und weltlichen Behörden gehetzt wurde, weil er lehrte, daß die Sonne im Mittelpunkt des Weltsystems stehe, und die Grundlage zum heliozentrischen Weltsystem legte im Gegensatz zum geozentrischen des Ptolemäus. Noch Luther bezeichnete diese Lehre als eine »Narrheit«, weil, wie die Bibel lehrt, Josua der Sonne und nicht der Erde zugerufen habe: »Stehe still!« Als Kepler (geb. 1571) verfolgt, seine Mutter wegen Hexerei angeklagt und seine unsterblichen Gesetze von den Bewegungen unseres Sonnensystems 1618 und 1619 von der Kongregation des Index expurgatorius in Acht und Bann getan wurden. Als der große Physiologe Harvey (geb. 1578) durch die Entdeckung des Blutkreislaufes (1628), welche die Grundlage der modernen physiologischen Erkenntnis legte, zum Gegenstand wütender Angriffe wurde, namentlich von Seiten der Universitäten. Als Galileo Galilei von der »heiligen« Inquisition gefoltert und 1633 gezwungen wurde, die Lehre abzuschwören, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt sei.
.