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Vom glückseligen Leben – Lucius Annaeus Seneca

(1.) Glückselig zu leben, mein Bruder Gallio, wünschen Alle, aber um zu durchschauen, was es sei, wodurch ein glückseliges Leben bewirkt werde, dazu sind sie zu blödsichtig. Und zu einem glückseligen Leben zu gelangen ist eine so gar nicht leichte Sache, daß Jeder sich um so weiter davon entfernt, je rascher er darauf losgeht, wenn er einmal den Weg verfehlt hat; denn führt dieser nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade die Eile der Grund einer immer größeren Entfernung. Man muß daher zuerst vor Augen stellen, was es sei, worauf man sein Streben richtet; sodann hat man sich darnach umzusehen, auf welchem Wege man am schnellsten dazu gelangen könne, indem man schon auf dem Wege selbst, wenn er nur der rechte ist, einsehen wird, wie viel davon täglich zurückgelegt werde und um wie viel näher man dem Ziele gekommen sei, zu dem uns ein natürliches Verlangen hintreibt. (2.) So lange wir freilich überallhin herumschweifen, keinem Führer folgend, sondern dem verworrenen Gelärme und Geschrei der uns nach ganz verschiedenen Seiten hin Rufenden, wird unser so kurzes Leben unter [stetem] Irregehen verfließen, auch wenn wir uns Tag und Nacht um eine richtige Ansicht bemühen. Daher entscheide man sich, sowohl wohin man wolle, als auf welchem Wege, und nicht ohne einen kundigen [Führer], der das, worauf wir zuschreiten, [bereits] erforscht hat, weil hier nicht dasselbe Verhältniß Statt findet, wie bei den übrigen Reisen. Bei jenen lassen uns ein Fußpfad, den man festhält, und Bewohner [der Gegend], die man befragt, nicht irren, hier aber täuscht gerade der betretenste und besuchteste Weg am meisten. (3.) Deshalb haben wir auf Nichts mehr zu achten, als daß wir nicht nach Art des Viehes der Schaar der Vorangehenden folgen, fortwandernd nicht, wo man gehen soll, sondern wo [von Andern] gegangen wird. Und doch verwickelt uns Nichts in größere Uebel, als daß wir uns nach dem Gerede der Leute richten, indem wir das für das Beste halten, was mit großer Zustimmung angenommen ist und wovon wir viele Beispiele haben, und daß wir nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Beispielen leben: daher jene gewaltige Zusammenhäufung von Leuten, die Einer über den Andern hinfallen. (4.) Was bei einem großen Menschengedränge der Fall ist, wo das Volk sich selbst drückt, daß Niemand fällt, ohne noch einen Andern sich nachzuziehen und die Vordersten den Folgenden verderblich werden, das kannst du im ganzen Leben sich ereignen sehen: Niemand irrt nur für sich allein, sondern er ist auch Grund und Urheber fremden Irrthums. Denn es ist schädlich, sich den Vorangehenden anzuschließen; und während ein Jeder lieber glauben, als nachdenken will, so wird über das Leben nie nachgedacht; immer glaubt man nur [Andern], und ein von Hand zu Hand fortgepflanzter Irrthum lenkt uns und stürzt uns [in’s Verderben]; durch fremde Beispiele gehen wir zu Grunde. (5.) Wir werden geheilt werden, sobald wir uns nur vom großen Haufen absondern; so aber steht der Volkshaufe, der Vertheidiger seines eigenen Verderbens, der Vernunft feindlich gegenüber. Und so geht es denn wie in den Wahlversammlungen, wo sich dieselben Leute darüber verwundern, daß Einer Prätor geworden, die ihn selbst dazu gemacht haben, wenn sich wandelbare Volksgunst gedreht hat. Eben dasselbe billigen, eben dasselbe tadeln wir: das ist der Ausgang eines jeden Gerichtes, wobei nach der Mehrzahl entschieden wird. II. (1.) Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir nicht mit jener Aeußerung bei Senatsabstimmungen antworten: »Dieser Theil scheint der größere zu sein«. Denn eben deshalb ist er der Schlimmere. Es steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, daß das Bessere der Mehrzahl gefällt; ein großer Haufe ist ein Beweis vom Schlechtesten. Laß uns daher fragen, was am Besten zu thun sei, nicht was am gewöhnlichsten geschehe, und was uns in den Besitz eines ewigen Glücks setze, nicht was dem großen Haufen, dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm sei. Den großen Haufen aber nenne ich eben sowohl die Leute mit Kronen, als die im Flausrock.


(2.) Denn ich sehe nicht auf die Farbe der Kleider, womit die Leiber geziert sind; den Augen traue ich nicht [bei einem Urtheil] über den Menschen. Ich habe ein besseres und zuverlässigeres Licht, worin ich das Wahre vom Falschen unterscheiden kann. Des Geistes Werth finde [auch] der Geist auf. Wenn dieser einmal Zeit gewinnt sich zu erholen und in sich selbst zurückzuziehen, o wie wird er, von sich selbst gefoltert, sich die Wahrheit gestehen und fragen: »Alles, was ich bisher gethan, möchte ich lieber ungeschehen wissen; wenn ich an Alles zurückdenke, was ich gesprochen habe, so lache ich über Vieles; Alles, was ich gewünscht habe, dünkt mir ein Fluch von Feinden, Alles, was ich gefürchtet, o ihr guten Götter, wie viel leichter [zu ertragen] war es, als das, was ich wünschte? (3.) Mit Vielen habe ich in Feindschaft gelebt und bin aus dem Hasse, wenn es anders unter Schlechten Freundschaft gibt, wieder zur Freundschaft zurückgekehrt; mir selbst [aber] bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgend ein Talent bemerkbar zu machen; was Anderes habe ich davon, als daß ich mich den Geschossen ausgesetzt und dem Uebelwollen gezeigt habe, wo es mich packen könne? Siehst du jene Leute, die deine Beredtsamkeit preisen, deinem Reichthum nachgehen, um deine Gunst buhlen, deine Macht [in den Himmel] erheben? Sie alle sind deine Feinde, oder, was gleich ist, können es sein. Wie groß die Schaar der Bewunderer, so groß ist die der Neider.« III. (1.) Nun so will ich lieber Etwas suchen, was erprobt gut ist und wovon ich einen Genuß habe, nicht womit ich prunken könne; das, was man anschaut, wovor man stehen bleibt, was Einer dem Andern mit Erstaunen zeigt, das glänzt von Außen, inwendig [aber] ist’s elend beschaffen. Laß uns [vielmehr] Etwas suchen, das nicht [blos] dem äußern Scheine nach gut, sondern gehaltvoll, gleichförmig und auf der verborgenen Seite selbst noch schöner ist. Das laß uns ausfindig machen; und es liegt nicht fern; es wird sich finden lassen; nur muß man wissen, wohin man die Hand ausstrecken soll. Jetzt gehen wir wie im Finstern am Naheliegenden vorüber und stoßen just an das an, was wir sehnlich verlangen. (2.) Doch um dich nicht auf Umwegen herumzuschleppen, will ich die Ansichten Andrer übergehen; denn es wäre zu weitläufig sie aufzuzählen und zu widerlegen. Hier hast du die unsrige. Wenn ich aber sage »die unsrige,« so binde ich mich nicht an Einen von den Häuptern der Stoa; auch ich habe das Recht meine Meinung auszusprechen. Daher werde ich dem Einen beipflichten, einem Andern seine Ansicht im Einzelnen entwickeln heißen; vielleicht werde ich auch, nach allen Andern zum Sprechen aufgefordert, Nichts von dem, was meine Vorgänger entschieden haben, verwerfen und [blos] sagen: »Meine Meinung ist außerdem noch folgende.« Inzwischen stimme ich, worin alle Stoiker Eins sind, der Natur bei; von ihr nicht abzuirren und sich nach ihrem Gesetz und Beispiel zu bilden, ist Weisheit. (3.) Glückselig also ist ein Leben, welches mit seiner Natur in Einklang steht; dies aber kann uns nicht anders zu Theil werden, als wenn zuerst der Geist gesund und in beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; sodann wenn er kräftig und entschlossen, zudem sittlich rein und geduldig ist, sich den Zeitumständen fügt und für den Körper und alles dazu Gehörige besorgt ist, jedoch ohne Aengstlichkeit; ferner achtsam auf die übrigen Dinge, die zum Leben gehören, ohne Bewunderung irgend eines derselben, bereit die Gaben des Glückes zu benutzen, aber nicht ihnen zu fröhnen. (4.) Du siehst, auch ohne daß ich es hinzufüge, ein, dem müsse [auch] eine beständige Ruhe und Freiheit folgen, da Alles verbannt ist, was uns entweder reizt oder schreckt. Denn an die Stelle der sinnlichen Genüsse und alles dessen, was kleinlich und hinfällig und gerade in seinen Schändlichkeiten unheilbringend ist, tritt eine unendlich große, unerschütterliche und sich gleich bleibende Freude, ferner Friede und Harmonie der Seele und Größe derselben mit Sanftmuth gepaart; alle Rohheit nämlich rührt [nur] aus Schwäche her.

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