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Gegenseitige Hilfe – Peter Kropotkin

Auf den Reisen, die ich in meiner Jugend durch das östliche Sibirien und die nördliche Mandschurei machte, empfing ich zwei starke Eindrücke aus dem Reiche des Tierlebens. Der eine war die außerordentliche Härte des Kampfes um die Existenz, den die meisten Tierarten wider eine rauhe Natur zu führen haben; die in ungeheuren Dimensionen stattfindende Vernichtung von Lebewesen, die periodisch aus natürlichen Ursachen erfolgt, und die daraus sich ergebende spärliche Verteilung von Lebewesen über jenes weite Gebiet, das Gegenstand meiner Beobachtungen wurde. Den anderen Eindruck zeitigte folgende Bemerkung: selbst an den wenigen Orten, wo das Tierleben üppig gedieh, konnte ich, obwohl ich emsig darauf achtete, nicht jenen erbitterten Kampf um die Existenzmittel zwischen Tieren, die zur gleichen Art gehören, entdecken. Und es war dieser Kampf, der seitens der meisten Darwinisten — keineswegs aber ständig von Darwin selbst — als das typische Kennzeichen des Kampfes ums Dasein und als der Hauptfaktor der Entwickelung betrachtet wurde. Die furchtbaren Schneestürme, die über das nördliche Eurasien im Spätwinter toben, und das Glatteis, das ihnen häufig folgt; die Fröste und Schneestürme, die alljährlich in der zweiten Hälfte des Mai wiederkehren, wenn die Bäume bereits in voller Blüte stehen und das Insektenleben sich überall regt; die zeitigen Fröste sowie die schweren Schneefälle, die vielfach im Juli und August eintreten und mit einem Schlage Myriaden von Insekten, sowie die zweite Brut der Vögel in den Prärien vernichten; die starken Regen — eine Folge der Monsune —, die in den milderen Gegenden im August und September niedergehen und Überschwemmungen hervorrufen, wie man sie nur in Amerika und im östlichen Asien kennt und die auf den Hochebenen Flächen von der Größe der europäischen Staaten in Morast verwandeln; und endlich die schweren Schneefälle im Anfang [IV] Oktober, die vielfach ein Gebiet so groß wie Frankreich oder Deutschland völlig unbewohnbar für Wiederkäuer machen und sie zu Tausenden vernichten — dies waren die Bedingungen, unter denen ich das Tierleben im nördlichen Asien ringen sah. Sie lehrten mich frühzeitig verstehen, welch überwiegende Bedeutung das von Darwin als »die natürlichen Hemmnisse gegen die Übervölkerung« bezeichnete Moment hat im Verhältnis zu dem Kampfe um die Existenzmittel zwischen Individuen der gleichen Art, einem Kampfe, der hie und da in einem gewissen Umfange statt hat, aber niemals die Bedeutung des ersten Moments erreicht. Spärliche Verteilung von Lebewesen auf weitem Raum, Untervölkerung und nicht Übervölkerung war das deutliche Charakteristikum jenes ungeheuren Teiles der Erde — Nordasiens —, und so regten sich damals in mir ernsthafte Zweifel — die nachfolgende Studien bestätigten — an der Wirklichkeit jenes furchtbaren Kampfes um Nahrung und Leben innerhalb jeder Spezies, der für die meisten Darwinisten ein Glaubensartikel war und nach ihnen eine ausschlaggebende Rolle in der Entwicklung neuer Arten spielte. Auf der anderen Seite, wo ich auch immer das Tierleben in reicher Fülle auf engem Raum beobachtete, wie z. B. auf den Seen, wo unzählige Arten und Millionen von Individuen zusammenkamen, um ihre Nachkommenschaft aufzuziehen; wie in den Kolonien der Nagetiere; wie bei den Wanderungen von Vögeln, die zu jener Zeit in wahrhaft amerikanischem Maßstabe dem Usuri entlang erfolgten; wie namentlich bei einer Wanderung von Damhirschen, die ich am Amur beobachten konnte und während deren Tausende dieser intelligenten Tiere von einem unermeßlichen Gebiete sich sammelten, um dem drohenden Schnee zu entfliehen und den Amur an seiner schmalsten Stelle zu überschreiten — in all diesen Szenen des Tierlebens, die sich vor meinen Augen abspielten, sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung sich in einem Maße betätigen, daß ich in ihnen einen Faktor von größter Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens und jeder Spezies, sowie ihrer Fortentwickelung zu ahnen begann. Endlich sah ich bei den halbwilden Rindern und Pferden in Transbaikalien, überall bei den wilden Wiederkäuern, [V] bei den Eichhörnchen und in zahlreichen anderen Fällen, daß, wo Tiere infolge der oben erwähnten Ursachen mit Mangel an Futter zu kämpfen hatten, der gesamte Teil der Spezies, der von dem Unglück betroffen war, aus der Prüfung derartig gebrochen an Kraft und Gesundheit hervorgeht, daß keine fortschrittliche Entwickelung der Art auf solche Perioden heftigen Kampfes zurückgeführt werden kann. Ich konnte daher, als später meine Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen Soziologie und Darwinismus gelenkt wurde, mit keinem der Werke oder Schriften, die über diesen wichtigen Gegenstand geschrieben waren, übereinstimmen. Sie suchten alle zu beweisen, daß die Menschheit dank ihrer höheren Intelligenz und Kenntnis die Stärke des Kampfes ums Dasein unter den Menschen wohl mildern könne; aber sie erkannten zur gleichen Zeit an, daß der Kampf um die Existenzmittel bei jedem Tier gegen seine Artgenossen und bei jedem Menschen gegen seine Mitmenschen ein »Naturgesetz« sei. Diesen Standpunkt konnte ich nicht akzeptieren, da ich überzeugt war, daß die Annahme dieses erbarmungslosen Bürgerkrieges in jeder Spezies und die Wertung dieses Krieges als Bedingung des Fortschrittes etwas zugeben hieß, was nicht nur nicht bewiesen war, sondern auch der Bestätigung durch direkte Wahrnehmung ermangelte. Demgegenüber war ein Vortrag »Über das Gesetz der gegenseitigen Hilfe«, der im Januar 1880 auf einem russischen Naturforscherkongreß von dem berühmten Zoologen Professor Keßler, dem damaligen Dekan der Petersburger Universität, gehalten wurde und den ich im Jahre 1883 las, für mich von Bedeutung. Er warf ein neues Licht auf die Frage. Keßlers Ansicht war, daß neben dem Gesetz des gegenseitigen Kampfes in der Natur das Gesetz der gegenseitigen Hilfe walte und daß dieses letzte für den Erfolg des Kampfes ums Leben und speziell für die fortschreitende Entwickelung der Arten bei weitem wichtiger sei als das Gesetz des gegenseitigen Streites. Diese Anregung, die in Wirklichkeit nichts anderes als eine Fortentwickelung der von Darwin in »der Abstammung des Menschen« selbst ausgesprochenen Idee war, erschien mir so richtig und von so großer Wichtigkeit, daß ich seitdem Material [VI] zum weiteren Ausbau dieser Idee zu sammeln begann, die Keßler in seinem Vortrag nur flüchtig skizziert hatte, deren eingehende Bearbeitung ihm jedoch nicht vergönnt war. Er starb im Jahre 1881. Nur in einem Punkt konnte ich Keßlers Ansichten nicht völlig akzeptieren. Ihm erschien das »Elterngefühl« und die Sorge für die Nachkommenschaft als die Quelle der gegenseitigen Neigungen bei Tieren. Ich glaube, die Bestimmung, inwieweit diese beiden Gefühle wirklich zu der Entwickelung von sozialen Instinkten beigetragen haben und inwieweit andere Instinkte in der gleichen Richtung tätig waren, ist eine ganz neue und eine zu weitgreifende Frage, als daß wir sie jetzt schon diskutieren könnten. Erst wenn wir das Tatsachenmaterial für die gegenseitige Hilfe bei den verschiedenen Tierklassen gesammelt und die Bedeutung dieser Hilfe für die Entwickelung klargestellt haben, werden wir untersuchen können, was in der Entwickelung der sozialen Gefühle auf Elterngefühle oder auf reinen sozialen Trieb zurückzuführen ist. Dieser hat offenbar seinen Ursprung in den frühesten Stadien der Entwickelung der Tierwelt, vielleicht schon im Stadium der »Koloniebildung«. Ich richtete also mein Hauptaugenmerk darauf, vor allem die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe als Entwickelungsfaktor nachzuweisen, und überlasse es späterer Forschung, den Ursprung des Instinkts der gegenseitigen Hilfe aufzuklären.


Die Bedeutung des Faktors der gegenseitigen Hilfe — »wenn seine Allgemeinheit nur bewiesen werden könnte« — entging nicht einem Naturforschergenie wie Goethe. Als Eckermann einst Goethe erzählte — es war im Jahre 1827 —, daß ihm zwei kleine, flügge gewordene Zaunkönige davongeflogen seien und daß er sie am nächsten Tage in dem Nest eines Rotkehlchens gefunden hatte, das die beiden mit seinen eigenen Jungen zusammen fütterte, geriet Goethe über dieses Faktum in förmliche Erregung. Er sah darin die Bestätigung seiner pantheistischen Anschauungen und sagte: »Wäre es wirklich, daß dieses Füttern eines Fremden als etwas Allgemeingesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Rätsel gelöst.« Er kam am gleichen Tage auf die Angelegenheit zurück und legte es Eckermann dringend nahe, eine Spezialstudie über diesen Gegenstand zu machen, und fügte [VII] hinzu, er würde sicherlich »zu ganz unschätzbaren Resultaten« gelangen. Leider wurde diese Studie niemals gemacht. Immerhin ist es aber möglich, daß Brehm, der in seinen Werken eine solche Fülle von Material bezüglich der gegenseitigen Hilfe unter Tieren aufgehäuft hat, durch Goethes Bemerkung angeregt worden ist. Mehrere Werke von Bedeutung wurden in den Jahren 1872 bis 1886 veröffentlicht, die von der Intelligenz und dem Geistesleben der Tiere handelten. Drei derselben beschäftigten sich spezieller mit unserem Gegenstand, und zwar »Les sociétés animales« von Espinas (Paris 1877); »La lutte pour l’existence et l’association pour la lutte«, ein Vortrag von J. Lanessan (April 1881), und Ludwig Büchners Buch »Liebe und Liebesleben in der Tierwelt«, dessen erste Ausgabe im Jahre 1879, dessen zweite, um vieles erweiterte Ausgabe 1885 erschien. Doch so ausgezeichnet jedes einzelne dieser Werke ist, so bleibt doch Raum für ein Werk, in dem »die gegenseitige Hilfe« nicht allein als Argument zugunsten eines vormenschlichen Ursprungs moralischer Instinkte, sondern auch als Naturgesetz und als Faktor der Entwickelung betrachtet werden soll. Espinas widmete seine Aufmerksamkeit namentlich solchen tierischen Gesellschaften (Ameisen, Bienen), die auf einer physiologischen Arbeitsteilung beruhen; und obgleich sein Werk voller trefflicher Winke nach allen möglichen Richtungen ist, so war es doch zu einer Zeit geschrieben, wo die Entwickelung menschlicher Gesellschaften noch nicht vom Standpunkt der Kenntnisse, die wir heute besitzen, behandelt werden konnte. Lanessans Vortrag hat mehr den Charakter einer geistreich entwickelten allgemeinen Disposition zu einem Werke, das das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung behandeln, mit den Felsen im Meere beginnen und dann die Pflanzenwelt, Tierwelt und endlich die Menschheit an sich vorüberziehen lassen würde. Auch dem Werke Büchners, so anregend und so reich es an Tatsachen ist, konnte ich wegen seines Grundgedankens nicht zustimmen. Das Buch beginnt mit einem Hymnus auf die Liebe, und nahezu alle Ausführungen und Beispiele bezwecken, die Existenz der Liebe und der Sympathie zwischen Tieren nachzuweisen. Den sozialen Trieb bei Tieren auf Liebe und Sympathie zurückzuführen, heißt aber seine Allgemeinheit und Bedeutung [VIII] herabsetzen. Auch die menschliche Ethik, sofern sie sich auf Liebe und persönliche Sympathie gründete, hat nur bewirkt, daß der Begriff des Moralgefühls zu eng genommen wurde. Es ist nicht Liebe zu meinem Nachbarn — den ich vielfach gar nicht kenne —, was mich treibt, den Wassereimer zu ergreifen und nach seinem brennenden Hause zu eilen; was mich treibt, ist ein viel weiteres, wenn auch unklares Gefühl, es ist ein menschlicher Solidaritäts- und Sozialtrieb. Ebenso ist es bei den Tieren. Es ist nicht Liebe oder etwa Sympathie (im eigentlichen Sinne), was eine Herde von Wiederkäuern oder Pferden einen Ring schließen läßt, um dem Angriff von Wölfen zu widerstehen, nicht Liebe, was die Wölfe sich zu Jagdzwecken zusammenrotten läßt, nicht Liebe, was Kätzchen oder Lämmer zum Spiel treibt oder ein Dutzend verschiedener Arten von Vögeln die Tage im Herbst gemeinschaftlich verleben heißt, und es ist weder Liebe noch persönliche Sympathie, was viele Tausende, über ein Gebiet von der Größe Frankreichs zerstreut lebende Damhirsche treibt, zahlreiche getrennte Herden zu bilden, die alle einem bestimmten Orte zueilen, um dort gemeinschaftlich den Fluß zu überschreiten. Es ist ein Gefühl, unendlich weiter als Liebe und persönliche Sympathie — ein Instinkt, der sich langsam bei Tieren und Menschen im Verlaufe einer außerordentlich langen Entwickelung ausgebildet hat und der Menschen und Tiere gelehrt hat, welche Stärke sie durch die Betätigung gegenseitiger Hilfe gewinnen und welche Freuden sie im sozialen Leben finden können.

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