Frau Dalmar lag in der zwölften Nachtstunde mit einem Buch in der Hand auf der Chaiselongue ihres Schlafzimmers, und las oder versuchte zu lesen. Ihr Gatte war mit ihrer Tochter Sibilla auf einem Ball. Vor ihrer Rückkehr mochte sie nicht zu Bett gehen. Sibilla bedurfte ihrer beim Ablegen der Balltoilette, und dann – – auf diesem Ball entschied sich vielleicht das Geschick des geliebten Kindes. Frau Dalmar war eine kleine unscheinbare Frau mit feinen Zügen und einer schüchternen Anmut im Wesen. Etwas leicht verkümmertes, dünnes, unausgewachsenes hatte sie. Sie machte den Eindruck einer verwelkten Knospe, die nie Blume gewesen war. In der That verbrauchte sie all ihre geistigen und körperlichen Kräfte, um ihre Pflichten als Hausfrau, Gattin und Mutter, die nicht immer leicht waren, zu erfüllen. Es galt, bei den geringen Mitteln, über die die Familie zeitweise verfügte, den Schein einer eleganten Lebensführung aufrecht zu erhalten. Ihre Ehe war eine freundliche, friedliche, obwohl der Gatte eine frischere, robustere Gefährtin vorgezogen hätte. So wie sie einmal war, behandelte er sie mit Humor, mit gutartigem Spott, und nannte sie, wenn er mit der Tochter über die Mutter sprach, unsre schwache kleine Mutti. Bezeichnend war, daß niemand den Vornamen von Frau Dalmar kannte. Daß sie unbeachtet blieb, war ihr gerade recht. Ohne jede Bitterkeit hatte sie sich damit abgefunden, nur die Mutter ihrer Tochter zu sein. Ihrer Tochter Sibilla! ein so süßes Geschöpf! All ihre Gemütskraft concentrierte sich in der Anbetung ihres Kindes. Darum konnte sie auch jetzt nicht lesen. Sie legte das Buch fort, streckte sich behaglich aus, schloß die Augen und malte sich die Zukunft ihrer einzigen Tochter aus. Wie bezaubernd hatte sie ausgesehen, als sie zum Ball fuhr, in dem Kleid von Silbergaze, mit der blaßrosa Rose in den goldbräunlichen Zöpfen. Wie hatten die großen dunklen Augen aus dem alabasterzarten Gesicht geleuchtet. Frau Dalmar begriff nicht, daß sich nicht jeder beim ersten Blick in dieses engelhafte Geschöpf verliebte. Sie erhob sich halb von der Chaiselongue und nahm von dem Seitentischchen ein Album. Es enthielt nichts als die Photographieen Sibillens, von ihren ersten Kinderjahren bis zur Gegenwart, zu ihrem achtzehnten Lebensjahr. Frau Dalmar vertiefte sich zärtlich in den Anblick dieser Köpfchen. Man brauchte nicht die Mutter zu sein, um in ihrem Reiz zu schwelgen. All diese Gesichtchen, mit dem wirren Gelock, das ein Oval von zarter, weichster Rundung einrahmte, trugen den Ausdruck schalkhaft holdseliger Lieblichkeit neben sinniger Klugheit.
Als Frau Dalmar an die zweite Seite des Albums kam, waren die Krausköpfchen verschwunden und lange Zöpfe traten an ihre Stelle, und allmählich änderten sich auch die Physiognomieen ein wenig. Einige der Köpfe zeigten einen fast grübelnden Ausdruck, mit einem leisen Hauch von schwermütiger Müdigkeit. Dann aber kam wieder ein lachendes Gesicht, das Schulmädchen mit dem Ränzlein auf dem Rücken, das Barett schief in die Stirn gedrückt, keck und übermütig. Die nächste Photographie mit einem Anflug von Trotz und Gelangweiltheit. Augenscheinlich hatte das Kind da dem Photographen widerwillig gestanden. Was schon an den Kinderköpfchen auffiel, trat jetzt noch stärker hervor: der eigentümliche Kontrast zwischen den Augen, die wie aus geheimnisvollen Tiefen heraufblickten, und der schelmischen Lieblichkeit des Mundes. Lächelnder Mund und träumende Augen. Dann verschwanden plötzlich die Zöpfe, und drei bis vier Bilder zeigten wieder den lockigen Tituskopf. Frau Dalmar lächelte in sich hinein, während ihr Auge auf diesen Bildern ruhte. Einmal, ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sich Sibilla vor der Mutter gefürchtet, als sie sich heimlich eines Abends die Zöpfe abgeschnitten hatte. Das Flechten und Zöpfen des Morgens war ihr langweilig und unbequem geworden. Am Morgen nach der Unthat war sie in die Schule gegangen, ohne der Mutter Adieu zu sagen. Sie hatte ihr aber auf der schönsten Schüssel des Hauses die abgeschnittenen, zierlich geflochtenen, mit rosa Bändchen geschmückten Zöpfe ins Schlafzimmer geschickt, mit einem drolligen Gedichtchen, das ihre Verzeihung erflehte. Und dieses Gedicht und der wehmütige Anblick der geliebten Zöpfe waren der schwachen Mutter so ans Herz gegangen, daß ihre quellenden Thränen den aufsteigenden Zorn im Keim erstickt hatten. Frau Dalmar blätterte weiter in dem Album. Und da war das erwachsene junge Mädchen von so eigentümlich berückender, märchenhafter Schönheit, daß ein Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit Frau Dalmars Züge überflog. Lange hafteten ihre Blicke an einer der Photographieen, die Sibilla in ihrem sechzehnten Jahr darstellte. Die Augenlider waren müde über die, wie in Träumen verlorenen Augen gesenkt. Um die feingeschwungenen Linien des etwas großen Mundes spielte wieder das halbe, kindliche Lächeln. Von der Nase zum Mund aber zog sich ein trauriger, fast bitterer Zug. Dieser Zug, wie kam er in das Gesicht ihres so jungen und so glücklichen, so ganz glücklichen Kindes? Frau Dalmar forschte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung dieser seltsamen Traurigkeit. Sie regte sich dabei auf. Sie wollte der Erregung Herr werden und erhob sich aus der liegenden Stellung. In dem geräumigen Schlafzimmer, das Sibilla mit ihr teilte, sah es ziemlich unordentlich aus. Ein Kommodenkasten stand halb geöffnet; auf dem Stuhle lagen allerhand Gegenstände, die das junge Mädchen für den Ball probiert hatte, ein Fächer, einige Paar Handschuhe, künstliche Blumen neben dem Karton, aus dem sie herausgerissen waren u.
s.w. Die Mutter begann die Sachen zu ordnen und in die Kommode zurück zu legen. Ein Schreibheft in Oktavform mit der Aufschrift »Tagebuch«, das in einem Winkel der Kommode lag, fiel ihr in die Augen. Sie selbst hatte es Sibilla an ihrem elften Geburtstage geschenkt, und das Kind verpflichtet, all seine kleinen Erlebnisse in das Buch einzutragen. Sie hatte ihr eindringlich vorgestellt, was für Freude sie in späteren Lebensjahren an diesen schriftlichen Erinnerungen haben würde. Im Grunde hatte Frau Dalmar noch einen anderen Zweck mit dem Tagebuch verfolgt. Diese Frau, deren Leben kaum je durch einen Schatten von persönlicher Eitelkeit getrübt worden war, besaß eine krankhafte Eitelkeit in Bezug auf Sibilla, deren ungewöhnliche Begabung sie erkannt hatte. Das Kind sollte seine glänzenden Anlagen so vielseitig und so frühzeitig wie möglich entwickeln. In den regelmäßigen Tagebuch-Aufzeichnungen sah sie ein Mittel, den Stil und die Denkkraft der Kleinen zu üben. Ein bis zwei Jahre lang hatte Sibilla mit größeren oder kürzeren Pausen das Tagebuch geführt. Dann war es ihr langweilig geworden, sie hatte es beiseite gelegt und vergessen. Frau Dalmar hatte absichtlich, um Sibillas Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit beim Niederschreiben nicht zu beeinträchtigen, nie verlangt, das Buch zu sehen, obwohl sie wußte, daß Sibilla ihr ohne weiteres den Einblick in dasselbe gestattet haben würde. Nun fiel dieses Bedenken fort; sie nahm das Büchelchen, streckte sich wieder auf die Chaiselongue und vertiefte sich in die Tagebuchblätter, mit lächelndem Stolz über die Frühreife und die Aufrichtigkeit des Kindes.
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