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Seefahrt ist Not – Gorch Fock

»Insonderheit aber bitten wir dich für die, die auf dem Wasser ihre Nahrung suchen. Segne, segne die Fischerei auf der See und im Fluß, behüte Mann und Schiff in allen Gefahren!« Pastor Bodemann beugte den grauen Kopf tiefer als zuvor. Da hatte er laut und warm für seinen alten Kaiser gebetet, laut und warm, wie es ihm von Herzen kam, nicht leise und kalt wie sein Vorgänger, ein zäher Welfe, der nur der kirchlichen Vorschrift nachgekommen war: »Laß deine Gnade groß werden über deinen Knecht Wilhelm, unsern Kaiser und Herrn, und über das ganze kaiserliche Haus.« Die gefurchte Stirn berührte fast das schwarze Tuch, mit dem die Kanzel vom Sonntag Reminiszere bis zum stillen Freitag bedeckt war. Es schien, als wenn die Stimme ihm versagte und er aufhören müßte. Und er hielt überwältigt inne und ließ die große Stille kommen. Totenstill wurde es in der Kirche auf Finkenwärder. Regungslos saß die Gemeinde. In die Augen kam eine Dunkelheit wie von aufsteigenden Tränen. Und die See nahm das Wort, die Nordsee, die Mordsee – mit ihren jagenden, zerrissenen Wolken, mit ihrem pfeifenden, brausenden Sturm, mit ihren haushohen, schäumenden, brüllenden Seen, mit Brand und Wetterleuchten, mit Dünung und Gewitter, – mit geborstenen Segeln, gebrochenen Masten, blakenden Notfackeln, verlorenen Wracken und hilferufenden Fahrensleuten. Und es war niemand da, der nicht ihre Stimme vernommen hätte. Die hellhaarigen Jungen auf den Bänken neben dem Altar, die als große Schleefen zu den gegenübersitzenden Konfirmandinnen hinübergelacht und ihnen zugenickt hatten, verjagten sich, legten beschämt die Hände zusammen und sahen vor sich hin, weil ihnen in der heiligen Stille die Väter und Brüder in den Sinn kamen, die draußen waren, und weil sie daran dachten, daß sie nach Ostern selbst in die Fischerei hineinkamen. Auch bei den rotbäckigen Mädchen wurde es still. Alle falteten rasch die Hände, und manches Kinderherz bebte, – vergessen war, daß sie abends am Deich einzuhüten hatten, und daß die Jungen dort vor den Fenstern trommelten und pfiffen, bis sie hineingelassen wurden und Blindekuh oder Sechsundsechzig mit spielen durften. Gesine Külper, die schönste Deern der Hamburger Seite des Eilandes, um die die Junggäste einander Sonntag abends auf Musik bannig in die Wanten stiegen, weil keiner sie dem andern gönnte und jeder sie nach Hause bringen wollte, senkte die Wimpern und neigte den stolzen Kopf, nicht allein, weil sie wußte, daß es ihr gut stand, sondern auch um die Seefischerei, um alle Freundschaft, Bekanntschaft und Verwandtschaft, die unter Segeln war. Auch Hein Loop betete mit, der Rotbart vom Auedeich, den sie den Seeteufel nannten, wenn er nicht dabei war, Hein Loop, einer der Verwegenen, der Verwogenen, wie sie an der Wasserkante sagen, einer von denen, die nicht reffen und nicht beidrehen mögen, die mit allen Lappen segeln und mit jedem Winde fischen, denen es ergeht wie dem jungen Lord von Edenhall: sie schlürfen gern in vollem Zug, sie läuten gern mit lautem Schall, die mit dem Glück von Edenhall anstoßen und es wohl auch einmal versuchen. Die See schmecke ihm erst dann, wenn sie gar sei, und gar sei sie nach seiner Meinung erst, wenn sie koche, hat Hein Loop einmal gesagt, und jeder, der ihn kannte, glaubte es ihm. Aber nun betete er, denn er wollte den andern Tag mit seinem Kutter nach See, up de Schullen dol, und konnte moi Wind und moi Fang gebrauchen. Auch Jan Greun, Simon Fock und Hinnik Six, seine Macker, die nicht weit hinter ihm saßen, ließen das Kirchenwort in die unerschrockenen Seemannsherzen hinein, wenn sie in Gedanken auch ein kräftiges Sprüchlein achteran hingen, das bei Jan hieß: Herr Pastur, de verdreihten Dänen ne vergeten! Bei Simon lautete es: Amen, Herr Pastur, ober dat Is mütt ierst innen Dutt, ans kann ik ne rut! Und bei Hinnik besagte es: De Büt, Herr Pastur, de Büt, de Büt, de hürt dor ok mit to! Von den mittleren Bänken kam ein Weinen und Schluchzen. Dort saßen die Seefischerwitwen, in ihren schwarzen Kleidern und mit den dunkeln Kopftüchern wie morgenländische Klageweiber anzusehen. Der letzte Jahrgang hatte die Stirnen auf der harten Holzlehne liegen, als sei kein Leben mehr in ihm: so wollten es die Sitte und der Schmerz. Zuhinterst saß die greise Geeschen Witten, tiefe Runen im Gesicht, das einer Landkarte ähnlicher sah, als einem Menschenantlitz. Sie konnte nur noch für Tote beten, denn alles Leben hatte sie der See gegeben: ihren Vater, der dreiundvierzig vor der holländischen Küste über Bord gekommen war, ihren Mann, der in den sechziger Jahren während der Äquinoktien untergegangen war, ihren Bruder, den sich die See fünf Jahre später bei Amrum geholt hatte, ihre beiden Söhne, die vor neun Jahren mit ihrem neuen Ewer verschollen waren. Sie wohnte ganz allein in ihrem großen, leeren Dachhaus, zwischen Netzen und Segeln, die die Gebliebenen zurückgelassen hatten, und wunderte sich, daß sie immer noch lebte, und daß auf ihrem Kirchenplatz nicht schon lange eine andere saß. Einer aber war da, der hatte den Kopf nicht gesenkt und die Augen nicht zugemacht: Thees to Baben, der Segelmacher und Spökenkieker, der Blut stillen, Krankheiten besprechen, Hexen bannen und Schweine zum Fressen bringen konnte und die Gabe des Vorsehens und Vorhörens besaß.


Er beobachtete den Pastor scharf, und als Bodemann die Augen schloß, machte Thees seine weit auf und starrte durch das verbleite Fenster, bis er ihn kommen sah, den langen, heimlichen Zug, der vom Deich stieg und über die Äcker, Gräben und Wischen wallte, ohne eines Weges oder Steges zu bedürfen, der durch die von selbst sperrweit aufgehenden Türen drängte und die Kirche füllte. Lautlos und gespenstisch besetzte er alle leeren Plätze und alle Gänge. Kopf an Kopf standen sie, die gekommen waren, die gebliebenen Fahrensleute, die alten und die jungen, die Schiffer und die Knechte. Mit weitgeöffneten, wasserleeren Augen sah der Segelmacher sie an. Wie sie über Bord gespült waren, standen und gingen sie, das Wasser leckte ihnen von den Südwestern, glänzte auf den Ölröcken und quoll aus den Seestiefeln. Der Spökenkieker sah sie und lugte, ob sie einen unter sich hatten, dessen Untergang am Deich noch nicht bekannt geworden war. Dabei blieb er ruhig, denn er war an Spuk gewöhnt: nur, wenn einer der Toten ihn ansah, schüttelte er den Kopf, als wenn er sagen wollte: an den Segeln hat es nicht gelegen, daß ihr geblieben seid: die Segel waren gut! Wobei er allerdings voraussetzte, daß er sie auch wirklich gemacht hatte. Endlich – ein erlösendes Husten unten im Schiff, ein befreiendes Scharren oben auf dem Chor, ein dreistes Sperlingsgeschrei draußen in den Erlen und Eschen. Da vergingen Gespenster und Gedanken, die Sonnenstrahlen fingen wieder an zu spielen, und Alt-Bodemann bekam seine Sprache zurück. Und als er dann bei seinem Herrgott um den Hausstand anhielt und alle, die dazugehörten, um gottesfürchtige Eheleute, Eltern und Herren, gehorsame Kinder und frommes und getreues Gesinde, da war die große Stille vorüber: die Konfirmanden machten wieder ihre verstohlenen Zeichen, die Mädchen kicherten und stießen einander im geheimen an, Gesine Külper dachte an den ersten Schnellwalzer, Thees Segelmacher stützte die Ellbogen auf die Brüstung und hörte so nipp zu, als wenn er noch Pastor werden wollte, und die Fahrensleute rollten die Prüntjer geruhig wieder hinter die Kusen.

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