In drei Romanen wollte ich drei Frauengenerationen des 19. Jahrhunderts schildern, deren Repräsentantinnen, den Durchschnitt zwar überragend, doch Typen ihrer Zeit sein sollten. Ich wollte sie schildern, aufsteigend aus dem ersten Dämmer des Morgengrauens der Erkenntniß bis zum hellen, verheißungsvollem Frühlicht, das den Glanz der Mittagssonne ahnen läßt, die erst über den Frauen des 20. Jahrhunderts aufgehen wird. Der vorliegende Roman »Schicksale einer Seele,« hätte der erste in der Reihenfolge sein müssen. Er erzählt das Leben einer Frau, die heut in den Sechsziger Jahren stehen würde. Er will ihr anfangs noch dunkles, instinktives Ringen um Sein oder Nichtsein ihrer Seele veranschaulichen, und er endet mit einer theoretischen, fruchtlosen Erkenntniß. Fruchtlos, weil der Weg zum Ziel: Befreiung der ureigenen Individualität aus der Vergewaltigung der Jahrhunderte, noch in dämmernde Nebel gehüllt bleibt, weil die Zeit für die Verwirklichung ihrer Ideen noch nicht erfüllt ist. In dem zweiten Roman: »Sibilla Dalmar« (er ist bereits vor zwei Jahren erschienen) hatte ich das Lebensbild einer Frau, die heut etwa 40 Jahr alt sein würde, gezeichnet. Der Weg, der zum Ziel führt, liegt schon klar vor den Augen der Heldin, er ist aber uneben, dornig, gefahrvoll, beschreitbar nur für energische Charaktere, denen Schwierigkeiten ein Sporn zum Vorwärtsdringen sind. Diesen sonnenlosen Weg zu gehen war über Sibilla Dalmar’s Kraft. Der dritte Roman »Anne Marie Rubens« wird der eben aufblühenden jungen Generation gewidmet sein. Es würden demnach meine drei Frauengenerationen die Lebensbilder von Großmutter, Tochter und Enkelin entrollen. Alle drei Romane dienen der Illustrirung des Pindar’schen Spruches: »Werde, die du bist.« SCHİCKSALE EİNER SEELE Monatelang nun ohne Dich geliebtester Freund! Freund! Das Wort klingt fast hart, deckt sich nicht mit dem Begriff. Starkes und Zartes, eine ganze Milchstraße von Sternen ist in dem Begriff. Freundschaft! Labsal ohne Schaum und Bodensatz. Alles ist Inhalt. Zuerst war ich betrübt, daß ich Dir so ewig lange nicht schreiben sollte; die gelegentlichen postlagernden Briefchen und Karten in die Ferne hinaus, von Ort zu Ort, in denen nichts intimes stehen durfte, zählen ja nicht. Nun habe ich das Betrübtsein überwunden, da Du ja die Olympierfahrt nach Griechenland – und gewiß gehts bis nach Indien – als ein so großes Glück empfindest, lieber, lieber Idealist Du! Eine Tempelfahrt zu heiligen Gräbern! Da dürften nur Gebete Dich begleiten. Sie sollen’s auch. Aber nicht wahr, die leise Wehmuth in mir, die Dir nachzieht von Ort zu Ort, weil ich nicht mit Dir ziehen konnte, begreifst Du? Wegen meines Katarrhs brauchst Du nicht ängstlich zu sein. Die liebe Julie und die gute Philomele, die pflegen mich und sorgen sich um das bischen Husten, als ob er lebensgefährlich wäre. Ein wenig greift er mich wohl an, nicht allzu sehr. Ich bin oft müde, eine angenehme Müdigkeit, in der das Dasein mich wie milde Luft umfließt, lind, einschläfernd.
Die Müdigkeit wird mich nicht hindern, mein Versprechen zu halten. Ich werde fleißig sein müssen, sehr fleißig, hurtig, hurtig schreiben! Drei Monate nur um meine ganze Lebensgeschichte zu Papier zu bringen! Recht schlicht und einfach soll ich erzählen, wie Du es liebst. Versuchen will ich’s; und laufen mir zu viel Bilder in die Feder, so streiche ich sie wieder aus. Ich weiß wohl, Du hast mir die Aufgabe gestellt, damit ich vor lauter Beschäftigung nicht Zeit haben soll, melancholisch zu werden. Auch darin hast du gewiß recht: das fehlte unserer Intimität, daß Du meine Vergangenheit so wenig kennst. Würdest Du nur nach allem gefragt haben, ich hätte schon geantwortet, aber wir zwei Beide sind wirklich etwas zu diskret, zimperlich diskret. Und jetzt meintest Du, wäre der geeignetste Zeitpunkt für mich rückwärts zu schauen, da ich an einem Wendepunkt meines Lebens stände. Ja, ein Wendepunkt, das hoffe ich. Alles alles muß sich nun wenden. Es wird mir nicht leicht werden dir mein treues Selbstportrait zu zeichnen. Der Kontrast zwischen dem was ich war und wie ich geworden bin, ist zu groß: zwei Seelen, die kaum noch eine leichte Familienähnlichkeit miteinander haben. Ich kann mich nicht zurück denken zu der unschuldigen, mit etwas Romantik versetzten Naivetät meiner jungen Jahre. Du mußt mir nun schon glauben, was ich von mir berichten werde, auch wenn sich meine Worte von heute mit der Marlene, die ich einst war, nicht decken. Als wir uns kennen lernten, fandest Du ja auch noch so vieles in mir, daß Du Dir nicht zusammen reimen konntest. Wenn Du zu Ende gelesen haben wirst, was ich hier schreibe, wirst Du es begreifen wie ich so verblödet, so jeder Individualität bar, so charakterlos und feig und geduckt werden konnte, und dabei so frechen Geistes, so schwer in meinem Denken und Fühlen zu beeinflussen, so ganz mein inneres Leben für mich lebend, selbständig und allein. Ich komme mir selber oft wie eine Schnecke mit Flügeln vor. Sie nützen mir nichts – die Flügel, das Schneckenhaus ist zu schwer. Habe ich eigentlich viel zu erzählen? Ich werde mir den Kopf zerbrechen müssen um aus der Tiefe meines Gedächtnisses herauszufischen, was etwa auf dem Grunde ruht, schwerlich Perlen – oder doch vielleicht Perlen, wenn es wahr ist, daß sie ein krankhaftes Produkt gesunder Muscheln sind. Bin ich krankhaft? weiß ich denn so recht wie und wer ich bin? Vielleicht, wenn ich all meine Erinnerungen nieder geschrieben habe, weißt Du es und Du sagst es mir dann wieder. Tagelang, wochenlang soll ich mich nun mit mir beschäftigen, immerzu ich – ich! Müßte nicht Feinergearteten eine Art pudeur – mir fehlt im Augenblick das deutsche Wort – überkommen so die Seelenhüllen abzustreifen? Zu Hause in Berlin hätte ich’s gewiß nicht gekonnt, hier aber, wo die Sonne in jeden Winkel hineinstrahlt und in ihrem Licht marmorne Götter ihre stolze keusche Nacktheit baden, geht es eher. Und wenn schon denn schon. Ich werde selbst vor Eigenlob nicht zurückschrecken, wenn ich auch nicht annähernd so brav bin wie Du es von mir denkst. Anfangen! anfangen! Ja, gleich. Am Ende wird mein Geschreibsel eine förmliche, Antobiographie werden. Du hast’s gewollt.
Ganz am Schnürchen will ich erzählen und mit dem Anfang anfangen. Wir schreiben jetzt 66. Ich bin 33 Jahre alt. Rechne aus, wann ich geboren bin. Daß es zu Berlin war weißt Du. Daß mein Vater Inhaber einer Kattunfabrik ist, daß ich unter acht Geschwistern das älteste Mädchen war, weißt Du auch. Ich erzählte Dir einmal von meinen Geschwistern, erinnerst Du Dich? Du sagtest schmeichlerisch: ein Schwan im Ententeich. Ach Du Lieber, eher ein Kukuksei, das im fremden Nest ausgebrütet wurde. Ich bin mit einem rothen Mal auf der Stirn geboren, ob ein stern- oder kreuzartiges, darüber sind die Gelehrten nicht einig. Es entstellt mich nicht, weil es nur sichtbar wird, wenn ich sehr erhitzt bin. Wahrscheinlich hast Du es nie bemerkt. Wie ich zu dem Namen Marlene komme, da doch meine Geschwister alle so hausbackene Namen haben? Eins meiner Brüderchen erzählte der Mama eines Tages das Märchen vom Marlenechen. Und er soll es so drollig erzählt haben, daß meine Mutter Thränen lachte, und fast unter diesen Lachthränen kam ich zur Welt. Zum Andenken an diese wunderbare Begebenheit wurde ich Marlene getauft. Bis zu meinem sechsten Jahr wohnten wir so gut wie auf dem Lande, in einer feldartigen, abgelegenen Straße, der Hirschelstraße, die nur aus kleinen, weit auseinanderliegenden Gärtnerhäuschen bestand. Jetzt ist sie stattlich bebaut. Alle diese Häuschen hatten große, primitive Gärten, an die sich weite Wiesen schlossen. Die Wiesen wurden durch einen lang sich hinschlängelnden Bach begrenzt, der für uns Kinder die Grenze der Welt bedeutete. Er hieß der Schafgraben. Eine Fülle von Vergißmeinnicht blühte an seinem Rand, und allerhand Bäume, hauptsächlich Pappeln und Weiden umsäumten ihn. Meine Eltern waren auf das Gärtnerhäuschen verfallen der vielen Kinder wegen, die sich da tüchtig tummeln konnten. Das Reisen mit Kindern war damals noch nicht üblich. Meine ersten Kinderjahre haben nicht viel Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen. Nur hier und da, wenn ich nachsinne, tauchen vage Lichter aus dem Nebel auf, kleine Erlebnisse, die besonders stark auf mein Gemüth gewirkt haben müssen. Ich erinnere mich nicht der Zimmer, die wir bewohnten, nicht wie meine Eltern, meine Geschwister aussahen, ich weiß nichts von all den Menschen, die in meinen Gesichtskreis traten.
Ich muß ein sehr furchtsames, feiges, kleines Geschöpf gewesen sein (eigentlich bin ich es ja heute noch). Meine ersten Erinnerungen hängen mit Angst und Furcht zusammen. Ein Kettenhund auf dem Hof, der schwarze Nero, eine Frau in einem Laden, bei der das Dienstmädchen, das mich an der Hand führte, einkaufte, und die mir meine schwarzen Kohlen von Augen aus dem Kopfe schneiden wollte, und – meine Mutter! ich fürchtete mich vor meiner Mutter. So lange ich zurück denken kann, lag diese Furcht wie ein Alpdruck auf meiner Brust. In diese Schatten fiel aber auch Licht, romantisch angehauchtes. »Das rothe Glas – Meerfahrten – die Königbouquets – der Schafgraben« wären passende Titel für diese Lichtstrahlen. Damals kam noch in Zwischenräumen von 4 bis 6 Wochen der Lumpenmatz auf die Höfe, der für ein paar Pfennige (auch für die Gegenleistung von Lumpen) allerhand Kram und Trödel an Dienstmädchen und Kinder verkaufte: Ringe, Perlenschnüre, Tüchelchen und ähnliche Kostbarkeiten. Unser Kindermädchen hatte mir vom Lumpenmatz ein Stück rothes Glas gekauft. Eine Zauberwelt erschloß es mir. Stundenlang konnte ich auf der Wiese unter einem Baum liegen – merkwürdiger Weise habe ich behalten, daß es ein Quittenbaum war – und durch das rothe Glas hinausschauen in die Welt – eine glühende, brennende Märchenwelt von unerhörter Pracht. Selbst die Mistbeete, den Kettenhund, den schmutzigen Erdboden an regnerischen Tagen verwandelte das Glas in flammende Visionen. Rief man mich zu Tisch oder zum Vespern, so riß ich mich ungern von meiner Schwelgerei los, und mag dann wohl blöde und verwirrt drein geschaut haben, und ich glaube schon damals entstand die Mythe (es ist doch eine Mythe – nicht?) von meiner Dummheit, eine Meinung, die meine Familie wahrscheinlich bis auf den heutigen Tag festgehalten hat. Und nicht nur meine Familie – – aber ich wollte ja am Schnürchen erzählen.
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