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Literatur des Mittelalters – Adolf Ebert

Nicht nur durch die mannichfachen Untersuchungen über einzelne Autoren und Werke, die, zum Theil selbst durch das vorliegende Buch angeregt, seit fünfzehn Jahren, wo es zuerst herauskam, erschienen sind, wurde eine Umarbeitung desselben nöthig, sondern fast mehr noch durch die in diesem Zeitraum veröffentlichten neuen Ausgaben, namentlich des Corpus scriptorum ecclesiasticorum der Wiener Akademie, wie der Monumenta Germaniae historica. Wie in Folge der Emendation des Textes auch die literarhistorische Darstellung sich ändern musste, wird ein Vergleich dieser Auflage mit der ersten mitunter in recht auffallender Weise zeigen. Einzelne Verbesserungen sind bereits in die von mir durchgesehene französische Uebersetzung des Werks (von Aymeric und Condamin, Paris 1883–89) aufgenommen worden. Manche Erweiterung hat das Buch erfahren, wie schon der Unterschied der Bogenzahl erkennen lässt. So sind mehrere Werke, von denen ein paar erst in neuester Zeit ans Licht getreten sind, hier zuerst behandelt worden. In bibliographischer Beziehung bin ich den in der ersten Auflage befolgten Grundsätzen getreu geblieben, indem ich nur solche Bücher und Abhandlungen angeführt habe, die an sich oder doch für meine Darstellung von Bedeutung waren. Möge das Buch auch in seiner neuen Gestalt die günstige Aufnahme wieder finden, die ihm in der ersten Auflage zu Theil geworden ist. Leipzig, im September 1889. A. Ebert. Vorwort zur ersten Auflage. Eine Weltliteratur, wie sie Goethe von der Zukunft erwartete, bestand in der That schon im Mittelalter. Wie die Bildung desselben im Abendland eine gemeinsame ist, das Product des Zusammenwirkens der germanischen und romanischen Nationen auf der Basis der aus dem Alterthum überlieferten Kultur, und zwar nicht allein der klassischen, römisch-hellenischen, sondern auch der orientalisch-hellenischen d. i. specifisch christlichen: so ist die Literatur, die aus dieser Bildung hervorgeht, die selbst der Ausdruck derselben ist, auch eine gemeinsame, ein einheitlicher Organismus. Die Geschichte desselben von seinen Anfängen an zu erzählen, ist die Aufgabe, die ich mir gestellt habe: es ist dies die allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters. Dieselbe soll also kein äusserliches Aggregat von Nationalliteraturgeschichten sein, noch diese ersetzen, so wenig als die Weltgeschichte die Particulargeschichten der einzelnen Länder und Staaten. Das nationale Moment, das nicht bloss die besondere Art der Betheiligung der einzelnen Völker an der allgemeinen literarischen Bewegung bestimmt, sondern auch eigenthümliche Schöpfungen, die ausser dem Kreise derselben liegen, hervorruft, wird zwar deshalb keineswegs unberücksichtigt bleiben, aber es steht hier nicht in dem Vordergrund. Die einzelnen Nationalliteraturen werden hier vielmehr als Glieder jenes Organismus, als Zweige eines Baumes betrachtet werden: dieselben Ideen beleben sie, und diese erscheinen in gleichen oder ähnlichen Formen. Ehe diese Gliederung aber eintrat, d. h. ehe die germanischen und romanischen Sprachen bis zum literarischen Gebrauche entwickelt waren, war selbst die Sprache der mittelalterlichen Literatur im Abendland eine gemeinsame, die lateinische, und dieselbe bleibt es auch noch längere Zeit auf einzelnen literarischen Gebieten, bis sie allmählich auf dem einen früher, auf dem andern später von den Nationalsprachen, die sich ihr auf diesen Feldern zugesellen, verdrängt wird. So geht eine gemeinsame lateinische Literatur im Mittelalter den Literaturen der abendländischen Völker nicht bloss voraus, sondern noch lange zur Seite: die Sprache dieser Literatur war keine todte, sie existirte nicht allein in der Schrift, sondern ebenso gut in der mündlichen Rede, sie war nicht bloss die Sprache der Wissenschaft und des Kultus, sondern auch des Staates in vieler Beziehung; sie ertönte im Zechlied beim Becherklang wie in dem Gassenhauer des Vaganten; sie stand lange auch in regster Wechselwirkung mit den Volkssprachen, die sie stilistisch bildete, sie vermehrte nicht bloss deren Wortschatz, sondern eignete sich selbst auch aus ihm an, wie sie auch manches neue Wort aus ihren eigenen Stämmen schuf – das beste Zeugniss ihres wahren Lebens! Diese lateinische Literatur des Mittelalters bildet also einen integrirenden Theil jenes literarischen Organismus; ohne ihre Kenntniss ist ebenso wenig, ja noch weniger ein volles Verständniss der Geschichte einer einzelnen Nationalliteratur möglich, als ohne die Kenntniss der wichtigsten andern. Sie hat die Nationalliteraturen gleichsam auferzogen: sie hat nicht bloss die Beispiele und Muster für einzelne Gattungen geliefert, sondern unter ihrem Einfluss haben sich die poetischen Formen wie der Prosastil in den Nationalliteraturen ausgebildet. Mit dieser lateinischen Literatur beschäftige ich mich in diesem ersten Bande allein, indem ich ihre Entwickelungsgeschichte bis zu ihren ersten Anfängen zurückverfolge, die freilich weit jenseits der Grenze des Mittelalters liegen.


Nicht bloss für ihr geschichtliches Verständniss ist dies nöthig; es gilt zugleich, die für das Mittelalter, und namentlich seine Nationalliteraturen bestimmenden Elemente der Kultur, die sie in sich schliesst, in ihrer Ueberlieferung darzulegen. Die christlich-lateinische Literatur wird hier also durchaus im Hinblick auf die Literatur des Mittelalters und als ein Theil derselben behandelt. Selbstverständlich ist hier zunächst nur die Literatur im engern Sinne, die allgemeine Literatur gemeint, welche die späteren Nationalliteraturen vertritt und allein auch auf diese direct von Einfluss war, die Literatur welche an das Publikum im allgemeinen sich wendet; darum ist noch nicht die wissenschaftliche Literatur als solche hier ausgeschlossen: es kommt eben bei den einzelnen Werken nur darauf an, in wie weit sie an die ganze christliche Gesellschaft sich richteten oder auf diese wirkten; es ist aber auch selbst solcher Werke gedacht worden, die für die allgemeine Literatur indirect von besonderer Wichtigkeit waren. So fallen von den theologischen Werken die apologetischen, die praktisch-moralischen und asketischen wie die historischen ganz in unser Gebiet, die dogmatisch-speculativen und polemischen nur ausnahmsweise. Die Auswahl, die von vornherein manche Schwierigkeiten bot, muss sich in jedem einzelnen Falle, wo es nicht schon von mir geschehen, selbst rechtfertigen, auf Grund der hier angezeigten Idee und der Anlage des ganzen Werkes. Wie diese, Idee und Anlage, aus der Behandlungsweise der Literaturgeschichte als historischer Wissenschaft entsprungen sind, so sind auch für die Untersuchung und Darstellung die Grundsätze der Geschichtswissenschaft massgebend gewesen. Wie viel in Bezug auf literarhistorische Kritik zu thun war, zeigen schon die Anmerkungen, namentlich des letzten Buches 1; in ihrer knappen Fassung, wozu die Rücksicht auf den Raum nöthigte, müssen sie freilich mitunter sich nur an die Eingeweihten wenden, oder beanspruchen, dass der Leser sich genauer über das angezogene Material unterrichte: ich wäre sonst in solchen Fällen zu langen Excursen genöthigt gewesen. Die Ordnung des Stoffs ist im wesentlichen nach der Zeitfolge der Schriftsteller geschehen, was eine freie Bewegung innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht ausschliesst, wo es darauf ankam, der Gattung nach Zusammengehöriges nicht auseinander zu reissen: ich verfasste ja keine literarische Chronik. Wie der Geschichtschreiber aber die Begebenheiten, so hat der Literarhistoriker den Inhalt der Bücher zu erzählen. Auf die Inhaltsanalysen habe ich den grössten Fleiss verwandt, und mich keine Mühe verdriessen lassen, weil ich auf diesen Punkt den höchsten Werth lege. Es sind keine einfachen Inhaltsangaben: vielmehr habe ich bei ihrer Abfassung mir das Ziel gesetzt, die Composition des betreffenden Werkes durch die Analyse hervortreten zu lassen, seine Gliederung, die Verbindung der Glieder, die Uebergänge darzulegen, und so das wahre Wesen des Buchs wie die Kunst des Autors objectiv zu zeigen; und indem ich dem Leser also einen Leitfaden gab, sich in dem ganzen Werk zu orientiren, habe ich, durch die Anführung des Kapitels, Verses u. s. w. an den wichtigsten Stellen als Wegweiser gleichsam, ihm auch die Möglichkeit geboten, einzelne Punkte in dem besprochenen Werke aufzusuchen, um sich darüber genauer zu unterrichten. Solche Einzelheiten aber, die für die Literatur des Mittelalters von specieller Bedeutung sind, habe ich selbst in die Analysen verwebt oder in den Anmerkungen angezeigt.

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