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Im Reich der Homunkuliden – Rudolf Hawel

Schilderung einer großen Versammlung, die unter dem allgemeinen Beifall der Anwesenden beginnt und dann höchst tumultuarisch endigt. Im größten und vornehmsten Saale der Stadt saß Kopf an Kopf gedrängt ein höchst auserlesenes, distinguiertes Publikum. Die Spitzen der Regierung, Minister, Sektionschefs, Hofräte in den Logen, im Parkett hohe Militärs, Abgeordnete, Gemeinderäte, Oberbeamte des Magistrats, die Professoren der Universität, deren Glatzen einen leuchtenden Gegensatz zu dem reichen, kunstvoll ausgebildeten Haarschmuck der Damen bildeten, Doktoren aller Fakultäten, hervorragende millionenreiche Finanziers, kurz, was an Bedeutung in irgendeiner Richtung die große Stadt, das Zentrum des Reiches, aufbieten konnte, war hier versammelt. In den letzten Reihen des Parketts saßen die Vertreter des Bürgertums, Hausherren, bedeutende Gewerbetreibende, Genossenschaftsvorstände usw. Die Stehplätze im Hintergrunde des Saales nahmen die Abordnungen der sozialdemokratischen Arbeitervereine ein und auf den Galerien saßen die Journalisten, bereit, jedes Detail der Versammlung auf das genaueste schriftlich festzuhalten. Selbstverständlich fehlte es durchaus nicht an Photographen. Auf der Seitengalerie nächst der Rednertribüne hatten an dreißig Herren mit ihren Apparaten Aufstellung genommen, was einen ganz sonderbaren Anblick bot. Herr Ingenieur Schauer, der die photographischen Aufnahmen für das größte Tagesblatt des Reiches, »Die Gegenwart«, besorgte, stritt schon seit einer Viertelstunde mit zwei Polizeikommissären herum, weil sie ihm aus Rücksicht für das überaus zahlreiche Publikum die Verwendung von Magnesiumlicht wegen seiner Feuergefährlichkeit durchaus nicht gestatten wollten. Er wurde in seinem Kampfe von den Kollegen auf das eifrigste unterstützt. Der Redakteur des sozialdemokratischen Organs »Die Stimme des Volkes« und Seine Hochwürden Pater Doktor Himmellicht, der Schriftleiter der ultramontanen »Stimmen von oben«, erklärten die Weigerung der beiden Polizeikommissäre als eine Vergewaltigung des Rechtes der freien Meinungsäußerung, worauf die beiden Herren die Verwendung von Magnesiumlicht unter der Bedingung gestatteten, daß sechs Mann der städtischen Feuerwehr hinter den Apparaten Aufstellung nehmen. Ein Summen und Brausen, wie das schwirrende Getöse eines zum Ausschwärmen bereiten Bienenvolkes, erfüllte den ungeheuren Saal. Der Statthalter führte in seiner Loge mit dem Bürgermeister ein höchst angeregtes Gespräch; die Szene rief im Saale tiefe Bewegung hervor, denn es war allgemein bekannt, daß die beiden hohen Würdenträger sich im allgemeinen durchaus nicht freundschaftlich gegenüberstanden. Und als selbst der Ministerpräsident und der Kriegsminister Baron Ehrendegen zu den beiden Herren in die Loge traten, bemächtigte sich des Publikums eine ungeheure Erregung. Man war nun überzeugt, daß die Mitteilungen, die Professor Dr. Voraus heute dieser illustren Versammlung machen werde, von weltgeschichtlicher Bedeutung sein würden. Von Minute zu Minute stieg die Aufregung. Fünf Minuten vor acht Uhr war das Gedränge im Saale fast lebensgefährlich geworden, so daß Polizisten einschreiten mußten, die dann gegen jene Herren, die weder Uniform noch Orden trugen, höchst energisch vorgingen. Und die Ursache dieser ungeheuren Bewegung und Erregtheit? – Ein Vortrag des Herrn Professors Dr. Voraus. Monatelang vorher waren in den Blättern der verschiedensten Parteien schon kurze, geheimnisvoll gehaltene Notizen aufgetaucht, des Inhaltes, daß Professor Dr. Voraus eine Entdeckung gemacht habe, die bestimmt die ganzen sozialen Verhältnisse der Gegenwart umgestalten würde. Diese Notizen waren immer ungemein rätselhaft gehalten; stets hieß es zum Schluß, daß eine authentische Darstellung der Entdeckung von Seiten des höchst vorsichtigen Gelehrten erst dann zu erhoffen sei, wenn er sich von der absoluten Sicherheit seiner Schlüsse und Erwägungen selbst überzeugt haben werde. Man wußte, daß die Entdeckung des Gelehrten auf einer Erkenntnis der physiologischen Vorgänge im Menschenkörper bestehe. Dunkle Andeutungen der hervorragendsten und daher auch am besten informierten Journale bekundeten, daß die Entdeckung des Professors das Rätsel vom Tode lösen werde. Daß der Vortrag nicht im Saale der Akademie der Wissenschaften stattfand, hatte seine guten Gründe.


Professor Voraus hatte sich schon vor Jahren mit den gelehrten Herren gründlich zerkriegt und in wissenschaftlichen und allen möglichen anderen Zeitungen gegen die gelehrten Perücken, die protzigen Geistesaristokraten, die diplomierten Dummköpfe einen erbitterten Kampf geführt, der wegen seiner vehementen Art und seiner höchst volkstümlichen Führung auch das lebhafteste Interesse der Laien erweckte und die Akademie um den letzten, ohnehin so kärglichen Rest von Respekt des großen Publikums brachte. Und alle seine Kämpfe endigten mit vollständigen Siegen des Professors Voraus, seine Gegner wurden verlacht, und er stieg auf der Himmelsleiter des Ruhmes in ungeahnte Höhen empor. Verschiedene Versuche der Akademie, wieder ein angenehmes Verhältnis mit dem mächtigen Mann anzubahnen, schlugen gänzlich fehl. Er blieb ein Einsamer, und wenn er etwas mitzuteilen hatte, so wendete er sich an die großen breiten Massen, an das Volk, nicht an die Gelehrten, die, wie er sagte, die Gewohnheit hätten, ihre Schlafmützen wie Schneehauben über die Ohren zu ziehen, wenn wirklich eine große, neue Lehre zur Welt kommt. Es ist fünf Minuten vor acht. Der Saal ist überfüllt. Die Zugänge sind durch Polizisten für Neuankommende abgesperrt. Die Aufregung ist auf das höchste gestiegen. Da schlägt die große Uhr des Saales die achte Stunde. Man weiß, Professor Voraus ist pünktlich – kein englischer Chronometer ist so genau wie er. Das Gebrause verstummt, aller Augen richten sich nach der Seitentür vorn neben dem Podium, und als der letzte Schlag der Uhr verklungen ist, öffnet sich die Tür und heraus tritt Professor Dr. Voraus. Die Ruhe im Auditorium weicht plötzlich einem orkanartigen Beifallssturm; wütendes Klatschen, brausende Hochrufe ertönen, alles ist aufgestanden und winkt dem Erschienenen zu. Die Damen wehen mit ihren Taschentüchern, und selbst die sechs Feuerwehrleute hinter den photographischen Apparaten sind durch die Gewalt des Moments so gefesselt, daß sie in Habtachtstellung stramm salutieren. Volle fünf Minuten dauert der ohrenbetäubende Lärm. Professor Voraus steht, nachdem er mit einigen leichten Verbeugungen gedankt hat, ruhig bei seinem Tische und sieht lächelnd auf die tobende Menge. Er ist ein stattlicher Mann, anfangs der Vierziger, mit dunklem Vollbart, von nicht zu übermäßigem Umfang. Das Gesicht ist ernst und sehr würdevoll. Die Stirn ist sehr hoch, sie scheint noch höher durch die beginnende Glatze. Der Haarwuchs des Professors beginnt sich gegen den Scheitel hin zurückzuziehen. Der Professor läßt die Menge toben; plötzlich macht er noch eine leichte Verbeugung. Der Beifallssturm wird jetzt zum wütenden Orkan. Der Professor winkt und verbeugt sich nochmals. Dann tritt mählich Ruhe ein. Nach den ersten Worten herrscht bereits Totenstille in dem ungeheuren Saale.

»Verehrte Versammlung!« begann er, »Es ist mir eine höchst angenehme Pflicht, Ihnen zuerst für den geradezu kolossalen Besuch zu danken. Er beweist, wie rege Ihr Interesse für die Wissenschaft ist, für eine Wissenschaft, die allzu lange das ängstlich gehütete Geheimnis einiger weniger war. Ihre Teilnahme gewährt mir die stolze Befriedigung, zu erkennen, daß ich vollauf recht hatte, als ich begann, aus den Kerkermauern des Geistes, aus dem engen Rahmen der Akademie hinauszutreten vor die Menschen selbst, vor das Volk.« Ein Beifallssturm wie tiefer unterirdischer Donner ging durch den Saal. Die Professoren der Universität nickten einander mit wütenden Gesichtern zu. »Ich will keine langen Einleitungen machen, wie es meine gelehrten Herren Kollegen sonst belieben.« (Gelächter im Saale; die Professoren schütteln mit finsteren Blicken die gelehrten Köpfe.) »Ich will mit der Sache selbst sofort beginnen. Sie kennen wohl alle das Buch des Amerikaners Bellamy, diese im Jahre 2000 nach Christus spielende Utopie, diesen kindischen Zukunftstraum. Ein Gelehrter, der in einen tiefen, jahrhundertelangen magnetischen Schlaf versenkt wurde, lernt, aus diesem Schlafe erwacht, die glückliche frieden- und freudvolle Zukunft des Menschengeschlechtes kennen. Dieser magnetische Schlaf, der Jahrhunderte dauert und doch die Lebensfähigkeit des Körpers nicht beeinträchtigt, wurde bisher als eine Ausgeburt genialer dichterischer Phantasie betrachtet. Was in Bellamys Werk als Dichtung erscheint, das zur Wahrheit zu machen, das in die Wirklichkeit umzusetzen, ist mir durch meine Forschungen, durch unendliche Experimente gelungen!« Er mußte innehalten, denn in diesem Moment durchbrauste ein unendlicher Beifallssturm den Riesensaal. Der Statthalter und der Bürgermeister, der Ministerpräsident und selbst der Kriegsminister applaudierten, als wenn sie Mitglieder einer Theaterclaque wären. In demselben Moment erglänzte von oben das Blitzlicht der Photographen. Professor Voraus stand einen Moment von strahlendem Lichte umflossen da. Es dauerte lange, bis sich der Lärm gelegt hatte. Die Unruhigsten wurden die Universitätsprofessoren. Diese lachten sich höhnisch zu. »Mumpitz!« rief laut der Dekan der philosophischen Fakultät zum Dekan der theologischen Fakultät hinüber, und da eben Ruhe eingetreten war, so vernahm das Publikum allgemein die schmähenden Worte. Drohendes Gemurmel erhob sich, aber Professor Voraus, der ebenfalls die drohenden Worte gehört hatte, winkte ab. Es wurde ruhig. »Ich will Ihnen diesen ›Mumpitz‹ näher erklären.« Der Beifallssturm, der nun folgte, ist einfach nicht zu beschreiben. Die Professoren der Universität hatten hochrote Gesichter. Die Gemahlin des philosophischen Dekans wendete sich entrüstet von ihrem Gemahl ab.

»Ich schäme mich…«, sagte sie weinend. Der Dekan mußte sich alle Mühe geben, seine Frau zu beruhigen und sie zum Bleiben zu bewegen, was seine Kollegen höchlich belustigte. Professor Voraus stand indessen still bei seinem Pulte. Seine Lippen umspielte ein äußerst friedfertiges Lächeln. Er war höchlich zufrieden, daß er die gelehrten Herren so in Harnisch gebracht hatte. »Mumpitz, hat mein verehrter Kollege meine Idee genannt«, fuhr er fort. »Mir fällt es gar nicht ein, ihn wegen dieses Ausdruckes zur Rechtfertigung zu ziehen, hoffe aber, daß er am Schluß meiner Ausführungen trotz seines höchst unkollegialen Grolles mir voll und ganz recht geben wird!« Donnernde »Pfui!« klangen dem Dekan in die Ohren. Seine Frau sank vor Scham fast von ihrem Fauteuil zur Erde.

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