Prolog „Nach dem Zusammenbruch folgte eine geschichtslose Zeit von Chaos und Unordnung. Die Staaten zerfielen, und herumstreichende Banken verbreiteten Furcht und Schrecken über weite Gegenden Europas. Erst hundert Jahre nach dem Grossen Zusammenbruch entstanden allmählich wieder feste Gemeinschaften, die sich zuerst im Süden und Westen Europas zu staatlichen Gebilden zusammenschlossen und bald daran gingen, ihre Interessen auch auf den wilden Alpenraum auszudehnen. In dieser Zeit begannen auch in unserem Land Bestrebungen, die zersplitterten Gruppen zu sammeln und neu zu vereinen. Als dann die Bedrohung aus dem Westen aktuell wurde, begannen die Bündnisverhandlungen Gestalt anzunehmen. Es begann die Periode der Ersten Tagsatzung.“ Aus der Münchensteiner Chronik „Kirche und Partei des Südens waren lange Zeit ausschliesslich mit dem Aufbau der Neuen Ordnung beschäftigt gewesen. So blieb der Norden weiterhin unbekannte Wildnis. Erst am Zwölften Volkskongress wurde beschlossen, sich vermehrt um die Gebiete nördlich der Alpen zu kümmern und die notwendige Entwicklungsarbeit auf sich zu nehmen. Bald darauf schickte das Parteisekretariat die ersten Missionen über die Alpen, deren Berichte es der Partei dann erlaubten, dem Dreizehnten Volkskongress das Programm ‚Solidarische Entwicklungshilfe’ vorzulegen und verabschieden zu lassen.“ aus: Einzig offizielle Chronik der Partei des Südens Dies ist die Geschichte von Silvan, dem Politiker und Diplomaten aus Bologna, der als erster die Alpen bezwang und sich bis zum Rhein durchschlug, wo er nach langer und gefährlicher Reise durch die Schweiz die Stadt der Archivare entdeckte. Absturz in den Bergen Andreas stiess sich ab. Sein Hängegleiter begann ihn über eine mit Altschnee bedeckte Wiese zu tragen. Seine Schwester kehrte ins Haus zurück, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Andreas den Gleiter auch diesmal sicher zu steuern wusste. Der vom Tal aufsteigende, feuchtkalte Wind trug ihn rasch empor. Die aneinander gedrängten Häuser des Dorfes Fanas blieben zurück, und er trieb über teils graugrüne, teils noch verschneite Wiesen. Die Frühlingssonne der letzten Tage hatte Wiesen und Wälder rund ums Dorf weitgehend vom Schnee gereinigt. Die Berge, aber auch die Schattenregionen im Tal, waren dagegen weiterhin fest verschneit. Er hatte nun an die 20 Meter Höhe gewonnen, und der Boden schien weiter zu sinken. Andreas war glücklich, nach langen Wintertagen wieder seinen Gleiter steuern zu dürfen. Obwohl noch immer mit scharfen, kalten Böen zu rechnen war, hatte er sich anerboten, ins Tal, nach Grüsch, zu fliegen. Wie immer um diese Jahreszeit waren erste Kräuter und neues Melkfett einzukaufen; bescheidene Geschäfte eines sonst autarken Haushalts. Unten, bei einem der Ställe, starrten der Platz-Kaspar und die Trögli-Sabine zu ihm herauf, mit der Miene von Leuten, die ihre Skepsis gegenüber der wagemutigen und leichtsinnigen Jugend nicht verbargen. Doch ihre Skepsis kümmerte Andreas wenig. Sollten sie doch im Dorf weiter gegen die Hängegleiter wettern und weiterhin jedem, der es hören wollte, die Geschichte jenes unglückseligen Burschen erzählen, der vor bald fünfzig Jahren zu Tode gestürzt war.
Er würde sich das Privileg, über die Häuser hinweg ins Tal zu fliegen, nicht nehmen lassen. Im ganzen Tal gab es nur noch wenige Gleiter. Jeder wurde sorgfältig gepflegt und von Generation zu Generation weiter vererbt. Sein Vater, zum Gleiten selber zu dick geworden, hatte ihm den Hängegleiter zu seinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt und ihn tagelang in die alten Geheimnisse des Fliegens eingeführt. Seither genoss Andreas jene Sonderstellung, die sich aus der offenen Skepsis der Alten und dem Neid der Jungen zusammensetzte. Andreas überflog eine der halb überwachsenen Ruinen – frühere Ferienhäuser von Unterländern, munkelten alte Dörfler -, als er linkerhand ein unregelmässiges Knattern vernahm. Das Knattern wurde lauter. Eine leichte Drehung des Gleiters liess ihn ein zweites, langgestrecktes Luftfahrzeug erkennen, dahinter eine vom Wind zerzauste schwarze Rauchfahne. Er wusste, dies war eine jener fast schon legendären Flugmaschinen, wie sie in den alten Büchern erwähnt wurden. Schon vor einigen Jahren hatte er eine davon beobachten können. Er war mit seinem Vater und seiner Schwester am Heuen gewesen, als eines dieser Dinge von Küblis in Richtung Klus flog. Sie hatten gewunken, ohne dass irgendwelche Reaktion erfolgt wäre. Nun erhielt er Gelegenheit, sich eine solche Flugmaschine – eine ‚Teufelskarre’, hatte die PlagaurAnnie gemeint – näher anzusehen. Er steuerte seinen Gleiter in ihre Richtung und bemerkte, dass das Knattern der Maschine bald lauter, bald leiser wurde, zeitweise aussetzte, um dann doch wieder anzuheben. Als Andreas nahe genug herangeflogen war, um deutlich zwei Gestalten zu erkennen, setzte das Knattern aus. Die Flugmaschine begann zu sinken. Die beiden Gestalten winkten einander erregt zu. Plötzlich erfasste eine Böe das Gerät. Es drehte sich, begann zu strudeln, um unvermittelt fast senkrecht abzufallen. Die Flugmaschine mit ihren zwei Gestalten verschwand hinter einem kleinen Hügel. Ausser dem Surren des Windes an seinem Gleiter war nichts mehr zu hören. Erschrocken steuerte Andreas auf die Absturzstelle zu, nahe einem verwilderten Gehölz. Unter sich sah er die zerknickten Flügel der Maschine, daneben zwei reglose Gestalten. Er liess sich sinken, landete und stieg aus den Haltebügeln seines Gleiters. Gleichzeitig eilte aufgeregt der Mühli-Ueli herbei.
„Hast Du’s auch gesehen’“ stiess er hervor. „Na klar, sonst wäre ich nicht gelandet, Du Nerventöter“, rief ihm Andreas zu. Gemeinsam stapften sie zur Absturzstelle. Beide Gestalten, zwei Männer, lagen immer noch reglos, schlammverspritzt. Der eine, ein kleiner, dünner Mann mit fettem Bart, lag mit zerquetschtem Bein und unnatürlich nach hinten gedrehtem Hals, in der rechten Hand einen Teil des Steuerungsseils. „Genickbruch, da ist nichts mehr zu machen“, meinte Mühli-Ueli fachmännisch. „So hat es letztes Jahr auch meine Lisa erwischt, meine Lieblingsgeiss.“ Andreas, vom Tod des einen Fremden unbeeindruckt, sah sich nach dem zweiten Mann um. Es war ein hagerer Mann mit dunkelbrauner Haut, das schnurrbärtige Gesicht mit Schlamm und Blut verschmiert. Er bewegte sich kaum merklich. Inzwischen waren weitere Leute zur Absturzstelle vorgestossen, darunter Vieh-Kurtli, Milchführer des Dorfes, der auch als Viehdoktor einen nicht unbeträchtlichen Ruf zu wahren wusste. Er begann wie selbstverständlich damit, den Verletzten zu untersuchen, klopfte ihm den Brustkorb ab, drehte Arme und Beine, so wie er es bei Tieren gewohnt war. Andreas sah, dass für ihn weiter nichts zu tun blieb. So schlenderte er zur Flugmaschine: Sie war ebenso wie sein Hängegleiter aus leichten Alu-Stäben, Schnüren und wasserdichtem Tuch konstruiert. Fasziniert war er vor allem vom Motor: schwarzglänzend, schwer und mit verschiedenen rätselhaften Ein- und Ausbuchtungen. So viel Metall an einem Stück hatte er bisher noch nie gesehen. Am liebsten hätte er den Motor für sich behalten, um ihn Stück für Stück auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. Doch er wusste, dass dieses wertvolle Stück dem ganzen Dorf gehörte und dem Schmied dazu dienen würde, das Dorf mit neuen Messern und Sensen auszurüsten. Rasch und ohne viel Diskussion hatten die Männer aus dem Dorf alles Notwendige organisiert. Der verletzte, immer noch bewusstlose Fremde wurde sorgsam in Decken eingewickelt und auf einer Bahre ins Dorf getragen. Es seien keine schlimmen Verletzungen, nur ein gebrochener Arm und eine kleinere Blutung am Hinterkopf, meinte Vieh-Kurtli selbstsicher. Auch der Tote wurde – nachdem seine Kleider gründlich durchsucht worden waren – weggetragen. Ausser einigen Goldmünzen, einem kleinen, mit Glasperlen verzierten Revolver und einigen Papieren in fremder Schrift fand sich nichts. Der Mühli-Ueli, praktisch veranlagt, nahm den Abtransport des Flugmotors in die Hand. „Dass keiner es irgendeinem aus den anderen Dörfern erzählt“, warnte er lachend.
„Wer zuerst kommt, mäht zuerst.“ Als der letzte Teil der Flugmaschine, mitsamt dem wertvollen Wachstuch, ins Dorf getragen wurde, verliess auch Andreas den Unglücksort, nicht ohne heimlich einen im Schlamm versteckten Kompass an sich zu nehmen. Erneut nahm er seinen Hängegleiter in die Hand, stiess sich kräftig ab und flog weiter ins Tal hinunter. Die Sonne hatte unterdessen die Wolken weiter in Richtung Klus getrieben. Auch der Talboden, das Dorf Grüsch und die vom Schmelzwasser aufgeschwollene Landquart wurden von der Sonne beleuchtet. Selbst die schwarzgebrannten Reste der Holzfabrik wirkten im Sonnenlicht leicht und gelöst. Andreas überflog die ersten Häuser von Grüsch, liess sich hinab sinken und landete sicher beim ehemaligen Bahnhofgebäude, nun ein talbekanntes Kräutergeschäft. Einige spielende Kinder bewunderten seinen Hängegleiter, insbesondere die mit kräftigen Farben gemalten Adler an den beiden Flügeln. Lächelnd liess er sich die Bewunderung gefallen, bevor er den Gleiter auseinander nahm und sorgsam zu einem langen Paket verschnürte. Dann betrat er den Kräuterladen, wo ihn die kleine, flinke Frau des Kräuter-Hannes begrüsste. „Wie geht’s bei Euch in Fanas? Nun ist der Winter hoffentlich ganz vorbei. Bei Euch oben ist – so habe ich läuten hören – eine Flugmaschine abgestürzt. Ja, wer sich in Gefahr begibt! Nicht ganz bei Trost, mit solch gebrechlichen Kisten herumzukurven. Früher, so wird erzählt, sei unser Tal gar oft von fliegenden Maschinen überquert worden. Gross wie Häuser seien sie gewesen. Wer’s glaubt, der glaubt’s. Fliegende Häuser, so ein Ammenmärchen. Doch, Andi, erzähle. Von wo kam die abgestürzte Maschine? Ah, Ihr wisst es selbst noch nicht. Was einer tot und der andere bewusstlos? Mein Gott. Ach ja, Du kommst wegen den Kräutern und dem Melkfett…“ Nachdem Andreas keine weiteren Neuigkeiten mehr zu entlocken war, konnte er gehen. Noch bevor er Grüsch verlassen und den Aufstieg zu seinem Dorf begonnen hatte, war die Neuigkeit vom Absturz schon im ganzen Taldorf verbreitet, und innerhalb eines halben Tages waren fast alle Bewohner des Vorderprättigaus mit dem Geschehnis vertraut.
.