Turbine Muhlmann Als wir am 30. September, morgens, aus dem Gasthaus »Zum Turm« traten, war ganz Caub beflaggt. »Aha, wegen Sedan,« meinte Toni Bender, der nicht gern lange über etwas nachgrübelte. »Sedan ist doch am 2. September,« belehrte ich ihn. Ich studiere nämlich peinlich genau alltäglich den Abreißkalender, das ist zur wahren Manie bei mir geworden. Auf diese Weise sind mir die historischen Daten ziemlich geläufig. Ich rekapitulierte: »30. September Todestag des Schlachtenmalers Franz Adam und des bekannten Chirurgen B. von Langenbeck und Geburtstag der Johanna Sebus.« »Es wird wegen der Sebus sein,« reflektierte ich, »die hat sich ja um die Rettung aus Wassersnot verdient gemacht. Das wird schon so sein, daß man die hier in Caub, wo sich alles um die Schiffahrt dreht, feiert.« »Mußt ja immer alles besser wissen,« sagte Toni; »von mir aus können sie auch wegen Johanna Sebus geflaggt haben. Uns kann das aber auch völlig gleichgültig sein. Mir wenigstens ist es furchtbar egal.« Schweigend gingen wir nebeneinander her. Eigentlich wollte es mir doch nicht so recht in den Kopf, die Sache mit der Johanna Sebus. Man hätte doch schon mal irgendwie ihren Namen in Verbindung mit Caub hören müssen. Meine Gründlichkeit ließ mir keine Ruhe. »Du, Toni, in welchen Beziehungen mag Johanna Sebus denn eigentlich zu diesem Städtchen gestanden haben?« »Ihr Bruder war mit Blücher zusammen auf Quinta,« suchte Toni Bender die Frage abzutun, »und Blücher ist doch der Stadtheilige hier.« Davon hatte ich noch nie gehört und äußerte einigen Zweifel dieser Behauptung gegenüber. Toni Bender wurde die ganze Angelegenheit riesig lästig. »Immer deine Spitzfindigkeiten, die stehen mir schon am Hals heraus,« grollte er. »Ich möchte das doch gerne wissen; ich werde jemand fragen,« entschloß ich mich. »Wirst dich nett blamieren mit deiner Ignoranz,« nörgelte Toni weiter; »ich wüßte aber auch wirklich nicht, was mir annähernd so gleichgültig wäre, wie die Frage, warum heute hier geflaggt ist.
« Der Steuermann Jonas Rüderke kam uns entgegen. Den fragte ich. Er war im höchsten Grade erstaunt: »Na, das wissen Sie nicht? – Frau Turbine Muhlmann hat heute Geburtstag.« »Ach ja, natürlich,« verstellte sich Toni Bender; »ich habe es dir ja direkt gesagt,« wandte er sich an mich. »Da hast du dich mal wieder nett blamiert,« fuhr er fort, als der Steuermann weg war. Beklommen schwieg ich. Turbine Muhlmann – davon hatte ich noch nie gehört. Ich strengte mein Hirn vergebens an. Sollte ich, der ich mir wirklich mit Recht auf meine Datenkenntnis etwas einbilden konnte, hier versagen? Ich mußte mir Luft machen. »Du weißt hoffentlich jetzt wenigstens, wer Turbine Muhlmann war,« suchte ich Toni Bender zu verblüffen. »Natürlich. Die geistvolle Erfinderin der Sommersprossen,« bekam ich prompt zur Antwort. Ich schwieg wütend und kaute an meiner Zigarre. »Entschuldige, ich glaube, ich habe mich vertan,« begann Toni Bender nach einer Weile mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt; »Frau Muhlmann war die wackere Vorkämpferin der Kniebeuge.« »Ich verbitte mir diesen Quatsch!« schrie ich ihn wütend an. »Wie kann ich nur so vergeßlich sein. Du hast recht, unwillig zu sein. Ich habe das verwechselt. Frau Muhlmann war die talentvolle Erfinderin des kleinen Einmaleins,« fing Toni wieder an mit sachlich gerunzelter Stirn. Ich boxte ihn unter das Kinn. Er trat mir gegen das Schienbein. Es gab einen Mißton in unserer Freundschaft. Wütend ging jeder einen anderen Weg. Die Turbine Muhlmann ging mir im Kopf herum. Sie mußte doch eine historische Person sein, wenn eine ganze Stadt ihretwegen Flaggenschmuck anlegte.
Ich fragte noch etwa zwanzig Leute, denen ich begegnete, natürlich höchst diplomatisch – ich wollte mir doch keine Blöße geben –, konnte aber nicht mehr erfahren, als das, was mit Jonas Rüderke gesagt hatte. Ich betrank mich, so ärgerte mich diese Geschichte, und schlief dann bis zum Abend. Am Stammtisch im »Turm« traf ich abends wieder mit Toni Bender zusammen. Er lachte mich freundlich an. Ich schnitt ihn. Die Schiffahrt gab dem Stammtisch seinen Charakter. Ein kunstvoll gearbeiteter Anker aus Messing lag in der Mitte. Die Kapitäne und Steuerleute trafen sich hier. Alles famose, liebe Menschen. Über berufliche Dinge und Tagesfragen wurde debattiert. Eine gewisse Hitze oder Leidenschaftlichkeit, die sonst im allgemeinen derartigen Stammtischunterhaltungen anhaftet, kam hier nicht so recht auf, denn meistens war schon spätestens um halb zehn Uhr die Mehrzahl der Mitglieder der Tafelrunde eingeschlafen. Es kam sogar vor, daß Toni Bender und ich allein als letzte Überlebende am Tisch saßen. Bis elf Uhr blieb man in der Regel so angeregt schnarchend beisammen, dann rieb man sich verwundert die Augen, trank seinen Schoppen leer und ging höchst befriedigt von dem unterhaltsamen Abend auseinander. Ich wandte einmal schüchtern ein, daß es sich doch eigentlich zu Hause viel bequemer schlafen lasse. Da kam ich aber schlecht an. Man wolle auch seine Zerstreuung, sein Vergnügen haben, wenn man den ganzen Tag, von morgens um vier Uhr ab, hart gearbeitet habe. Das leuchtete mir ein. Warum man aber auch schon so früh anfange? Die Schiffe könnten doch auch zu einer anständigen Zeit, vielleicht so gegen elf Uhr, abfahren, bemerkte ich. Davon verstünde ich nichts, hieß es. An dem Abend von Frau Muhlmanns Geburtstag war der Stammtisch sehr gut besucht. Es ging lebhafter zu als gewöhnlich. Man sprach allgemein von dem Geburtstagskind. Am meisten aber Toni Bender. Er finde diese einheitliche Flaggenkundgebung für diese verdiente Frau wirklich im höchsten Grade sympathisch. Er trinke auf das Wohl der Jubilarin und der Cauber Bürger, die so solidarisch in solchen Fragen zusammenhielten.
Unverschämt feixend schaute er zu mir herüber. Man wollte auch von mir hören, wie mir diese Kundgebung gefiele. »O, gut, ich finde das wirklich wohltuend,« erwiderte ich vor mich hinblickend. Ich saß wie auf glühenden Kohlen. Mein ganzes Prestige wäre zum Teufel gewesen, wenn man gemerkt hätte, daß ich keine Ahnung davon hatte, wer diese bemerkenswerte und sehr gefeierte Turbine Muhlmann war. Toni Bender, dem Halunken, war meine Verlegenheit nicht entgangen, und er wußte, wenn sich das Gespräch einem anderen Gebiet zuwenden wollte, es immer wieder krampfhaft auf die Muhlmann zu bringen. Ich hielt es nicht länger aus. Unter irgendeinem Vorwand drückte ich mich und kehrte erst nach elf Uhr in den »Turm« zurück. Nur noch der Wirt war auf. Der mußte mir Aufschluß geben über diese rätselhafte Muhlmann. Ich lud ihn zu einer Pulle Cauber Pfannstiel ein. Aus der einen Flasche wurden fünf. Als ich wankend sehr spät mein Zimmer aufsuchte, wußte ich noch immer nicht, wer Turbine Muhlmann war. Ich habe tagelang die Menschen gemieden, mich scheu verkrochen. Meine Unwissenheit lag wie etwas sehr Schweres auf mir. Das Gespenst dieser mysteriösen Turbine Muhlmann verfolgte mich überall hin. Dann habe ich mir ein Herz genommen und bin offiziell auf die Bürgermeisterei gegangen. Ich habe den Bürgermeister gebeten, mir Einsicht in das städtische Archiv zu gestatten, unter dem Vorwand, daß ich die Absicht hätte, ein Werk zu schreiben über historische und legendäre Persönlichkeiten, die in irgendeiner Weise mit der Stadt in Berührung gekommen. So fehlten mir u. a. noch einige Daten aus dem Leben der Turbine Muhlmann.
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