Die Gebirgskette, die mit der amerikanischen Küste des Atlantischen Ozeans parallel verläuft und sich durch Nordkarolina, Virginien, Maryland, durch Pennsylvanien und den Staat New York hinzieht, führt den Namen der Alleghanies oder der Appalachenberge. Sie besteht aus zwei deutlich getrennten Höhenzügen: dem der Cumberland- und dem der Blauen Berge. Während dieses orographische System – übrigens das bedeutendste dieses Teiles von Nordamerika – sich in einer Ausdehnung von neunhundert Meilen (etwa sechzehnhundert Kilometern) hin erstreckt, übersteigt es im Mittel nirgends die Höhe von sechstausend Fuß. Sein hervorragendster Gipfel ist der 1918 Meter hohe Mount Washington. Das große Stück Erdenrückgrat, das mit dem einen Ende in das Wasser des Atlantischen Weltmeeres, mit dem anderen in das des St. Lorenzostromes eintaucht, hat auf Alpinisten bisher keine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Sein oberster Kamm reicht ja noch nicht in eigentlich hohe Schichten der Atmosphäre hinein; er wirkte also nicht so verlockend, wie die stolzeren Gipfel der Alten und der Neuen Welt. Und doch gab es in dieser Kette einen Punkt, den kein Tourist hätte erreichen können, denn er schien sozusagen unersteigbar zu sein. War dieser Punkt, der Great-Eyry, aber von den Bergsteigern bis jetzt außer acht gelassen worden, so sollte er doch bald die öffentliche Aufmerksamkeit, ja sogar eine beängstigende Unruhe erwecken, und zwar aus ganz merkwürdigen Ursachen, die ich am Anfang dieser Erzählung schildern muß. Wenn ich hier meine eigene Person einführe, möge das dadurch entschuldigt werden, daß ich mit einer der außergewöhnlichsten Erscheinungen, deren Zeuge das zwanzigste Jahrhundert sein kann und sein wird, sozusagen recht eng verknüpft gewesen bin, wie sich das im weiteren zeigen wird. Noch manchmal frage ich mich wirklich, ob das, was meine Erinnerung – vielleicht wäre es richtiger zu sagen: meine Phantasie – mir vorgaukelt, sich überhaupt so zugetragen hat, wie es sich mir jetzt darstellt. Bei meiner Eigenschaft als Oberinspektor der Washingtoner Polizei, bei der angebornen Neugier oder Wißbegier, die in mir bis zum höchsten Grade entwickelt ist, und ferner, da ich schon seit fünfzehn Jahren mit den verschiedensten Angelegenheiten beschäftigt und oft mit den heikelsten Aufträgen betraut war, für die ich gerade eine besondere Vorliebe habe… ist es ja nicht zu verwundern, daß meine Vorgesetzten mir auch diese unglaubliche Aufgabe stellten, bei deren – wenigstens versuchten – Lösung ich auf die undurchdringlichsten Geheimnisse stoßen sollte. Für das, was ich im folgenden erzähle, muß ich freilich von vornherein darum bitten, daß man mir aufs Wort glaube. Für die wunderbaren Tatsachen kann ich leider kein anderes Zeugnis als das meinige beibringen. Will man mir nicht glauben… auch gut… halte das jeder nach Belieben. Der Great-Eyry steigt aus der malerischen Kette der Blauen Berge auf, die sich im westlichen Teile von Nordkarolina erhebt. Seine rundliche Gestalt erblickt man schon, wenn man über den am Ufer des Satawba-Flusses erbauten Flecken Morganton hinauskommt, noch besser vom Dorfe Pleasant-Garden aus, das dem Berge um einige Meilen näher liegt. Was ist nun eigentlich dieser Great-Eyry? Rechtfertigt er die Bezeichnung, die ihm die Bewohner der dem Gebiete der Blauen Berge benachbarten Gegend beigelegt haben? Es erscheint ja natürlich, daß sie ihm diesen Namen gaben wegen seiner überwältigend großartigen Silhouette, die unter gewissen atmosphärischen Verhältnissen azurfarbig leuchtet. Wenn aber der Great-Eyry zu einem »Horst« gestempelt wurde, entsteht doch die Frage, ob auf ihm Raubvögel, Adler, Geier oder Kondore nisten. Ist der Berg denn wirklich eine Wohnstätte dieser mächtigen Segler der Lüfte? Sieht man sie in kreischenden Gesellschaften um diesen Zufluchtsort herumschweben, der nur ihnen allein zugänglich ist?… Mit nichten; sie erscheinen hier nicht in größerer Zahl als auf den anderen Gipfeln der Alleghanies. Ja im Gegenteil – und das ist hier wiederholt beobachtet worden – an gewissen Tagen beeilen sich diese Vögel, wenn sie sich dem Great-Eyry genähert hatten, vielmehr, aus seiner Nähe zu fliehen, und nachdem sie ihn mehrmals umkreist haben, fliegen sie mit betäubendem Geschrei nach allen Seiten davon. Warum also der Name Great-Eyry (etwa: Großer Horst)? Hätte man nicht lieber den Namen »Kessel« wählen sollen, wie man solche in den Berggegenden aller Länder antrifft? Zwischen den ihn umschließenden hohen Wänden findet sich doch jedenfalls eine breite und tiefe Aushöhlung. Ja man kann nicht einmal wissen, ob diese nicht vielleicht einen kleinen See, eine Art vom Regen und Schnee des Winters gespeiste Lagune enthält, wie solche an manchen Stellen und in verschiedenster Höhenlage in der Appalachenkette ebenso wie in mehreren Gebirgszügen der Alten und Neuen Welt vorkommen. Wäre es also nicht richtiger, wenn dieser Felsriefe in der geographischen Namensliste unter einer Bezeichnung, wie der erwähnten, aufgenommen wäre? Um die ganze Reihe von Mutmaßungen zu erschöpfen, möchten wir auch noch fragen. ob es sich hier nicht um den Krater eines Vulkans handeln könnte, vielleicht um einen schon lange schlummernden Vulkan, der durch Vorgänge in seinem Innern eines Tages doch wieder aus dem Schlafe geweckt werden könnte.
Dann wären in seiner Umgebung am Ende gar heftige Ausbrüche, wie die des Krakatoa, oder verhängnisvolle Katastrophen, wie die vom Mont Pelée verursachte, zu befürchten. Nahm man dagegen das Vorhandensein eines Bergsees im Innern an, dann konnte sein Wasser vielleicht in den Schoß der Erde eindringen, durch deren Zentralfeuer verdampft werden und dann die Ebene von Karolina mit einem Ausbruche bedrohen, gleich dem, der 1902 einen Teil der Insel Martinique verwüstet hatte. Wie zum Hinweis auf eine solche Möglichkeit verrieten einzelne, unlängst beobachtete Erscheinungen, wie das Auftreten von Dampfwolken, die Wirkung von plutonischer Tätigkeit im Innern der Bergmasse. Einmal wollten auf den Feldern der Umgebung beschäftigte Bauern sogar dumpfe und unerklärliche Geräusche vernommen haben. In der Nacht waren auch Flammengarben in die Höhe geschossen. Aus dem Innern des Great-Eyry wirbelten Dampf- und Rauchwolken empor, und wenn sie der Wind nach Osten zu vertrieben hatte, ließen sie auf der Erde Spuren von Asche und Ruß zurück. Die bleichen Flammen, die von den unteren Wolkenschichten zurückgestrahlt wurden, warfen dann bei der allgemeinen Dunkelheit einen unheimlichen Lichtschein über die Umgebung. Angesichts dieser seltsamen Erscheinungen kann es nicht wundernehmen, daß man sich hier im Lande ernsthaft beunruhigt fühlte. Zu dieser Beunruhigung gesellte sich noch das dringende Verlangen, zu wissen, woran man sich zu halten habe. Die Zeitungen von Karolina brachten ununterbrochen Mitteilungen über das, was sie »das Geheimnis des Great-Eyry« nannten. Sie erörterten die Frage, ob e s nicht etwas zu gefährlich sei, in einer solchen Nachbarschaft zu wohnen. Ihre Artikel erregten gleichzeitig Neugier und Befürchtungen: Neugier bei denen, die, selbst in Sicherheit, sich für die Vorgänge in der Natur interessierten, Befürchtungen bei denen, die Gefahr liefen, deren Opfer zu werden, wenn die jetzt noch örtlichen Erscheinungen sich über die Umgebungen des Berges verbreiteten. Zum größten Teile waren das die Bewohner der Flecken Pleasant-Garden und Morganton, sowie die der Dorfschaften und der zahlreichen zerstreuten Farmen am Fuße der Appalachenberge.
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