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Deutsche Herzen, Deutsche Helden – Der Fürst der Bleichgesichter Teil 2 – Karl May

Prescott, der Hauptort von Yavahai County im nordamerikanischen Staate Arizona war zur Zeit, da die uns bekannten Personen dort handelnd auftraten, noch Sitz der Territorialbewegung. Man hatte in der Nähe reiche Gold- und Silberlager entdeckt, und durch diese Entdeckung war, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt, eine Menge fraglicher und fraglichster Existenzen herbeigezogen worden. Diese problematischen Subjecte waren sehr schwer zu überwachen, unmöglich aber zu regieren, obgleich, wie gesagt, die Regierung ihren Sitz im Orte hatte. Es kamen fast täglich Dinge vor, welche sich mit dem Gesetze nicht in Einklang bringen ließen. Die Gewalt ging vor Recht und die Verschlagenheit und Verworfenheit siegte noch über die Gewalt. Wer sich erhalten wollte, mußte Eins von Beiden sein, gewaltthätig oder hinterlistig. Es versteht sich ganz von selbst, daß an einem Minen- oder Goldgräberorte die Schnapsschänken und Spielhäuser wie Pilze aus dem Boden wuchsen. Sie alle, alle waren verrufen. Eine einzige nur erfreute sich eines einigermaßen guten Leumundes, und der Wirth dieser Venta war – nicht einmal ein Wirth, sondern eine Wirthin, eine Frau oder, die Wahrheit zu sagen, eine alte Jungfer. Eine bedeutende Strecke vor der Stadt lag diese Venta, und zwar an dem Wege, welcher nach Cerbat und Fort Mohave führte. Das Gebäude war aus unbehauenen Steinen aufgeführt, bestand aus dem Parterre und dem Dachraume mit zwei kleinen Giebelstuben und hatte hinten einen Stall, an der Giebelseite nach Norden aber einen sogenannten Corral, eine starke Plankenumzäumung für allerhand Thiere, meist Pferde und Maulthiere. Ueber der Thür zu dem Hause war ein breites, hohes Schild angebracht. Es zeigte eine weibliche Figur mit Büchern, einer Weltkugel, einer Palette und einem Winkelmaße in den Händen und darunter war in großen Buchstaben zu lesen: »Venta zur gel ehrten Emeri a.« Nämlich die Wirthin hieß Emeria, Sennorita Emeria. Sie hatte ihren Kopf in die Wissenschaften gesteckt und ihr Herz an den Branntwein gehängt; beide waren da stecken und hängen geblieben. Trotz dieser letzteren Liebhaberei war sie ein resolutes, respectirtes Frauenzimmer. Sie trank nämlich sehr oft, nie aber zu viel, und da ihr Kopf nur der Kunst und Wissenschaft gehörte, so fand der Schnaps in demselben keinen Platz, sie war nie betrunken. Desto öfters aber setzte er sich in ihrem Herzen fest. Geschah dies, so dachte sie an ihre erste und einzige Liebe und weinte ihr bittere, nach Branntwein duftende Thränen nach. Außer vielen anderen Eigenthümlichkeiten hatte sie besonders die eine, daß sie jeden Gast auf seinen gelehrten Standpunkt prüfte; nach diesem richtete sich ihr Verhalten. Sie hatte früher einmal Erzieherin werden wollen und zwei Jahre lang über drei oder vier Büchern gesessen. Aus diesen hatte sie sich eine ihrer Meinung nach beispiellose Weisheit geschöpft, und nun war sie stets bereit, mit Jedwedem ein gelehrtes Tournier einzugehen. Wie es eigentlich um ihr Wissen stand, das ahnten Wenige; noch Wenigere wußten es; sie aber ahnte es selbst nicht einmal. Heute saß ihre sehr lange, sehr dürre, scharf und spitz gezeichnete Gestalt am Tische, eine große Klemmbrille auf der Nase, ein Buch vor sich, daneben rechts ein Stück Thon zum Modelliren und links die Zeichnung einer oberschlächtigen Oel- und Getreidemühle. Sie studirte.


Das heißt, sie nickte halb im Traume vor sich hin und that zuweilen einen Schluck aus dem kleinen Fläschchen, welches in einer Höhlung des Modellirthons steckte. Sie war bisher allein gewesen; jetzt aber öffnete sich die Thür und ein junger, hübscher, muthwillig dreinblickender Bursche trat ein. Das war Petro, ihr Peon oder Reitknecht, der aber nebenbei auch alles Andere war. Und das war er, weil er sich ihre ganz besondere Zuneigung erworben hatte. Und diese hatte er erlangt, weil er alle ihre gelehrten und verblüffenden Fragen sofort, ja blitzschnell auf eine noch viel gelehrtere und verblüffendere Weise beantwortete. Er hatte sich da ihre ganz besondere Anerkennung erworben und – stand sich sehr wohl dabei. Sie merkte gar nicht, daß er sich nur lustig über sie machte. »Was befehlen Sennorita zum Abendessen?« fragte er. »Jetzt noch nichts, ich will erst abwarten, welche Temperatur wir am Abende haben. Die Temperatur steht nämlich in innigster Wechselbeziehung zu der menschlichen Bauchspeicheldrüse -« »Leberwürmern, schneidenden Winden und schleimigem Stuhlgange,« fiel er sofort mit der Sicherheit eines Professors der Pathologie ein. Sie blickte überrascht auf. »Das ist sehr richtig, besonders das von den Winden. Diese hängen ganz besonders von der Temperatur ab. Sie stehen in umgekehrtem Verhältnisse zur Außenwelt. Wind muß ja sein, ist draußen keiner, so geht er im Innern des Menschen. Wie viele Grade haben wir heute?« »Zwanzig nach Reaumur.« »Wieviel macht das nach Celsius?« »Fünfundzwanzig.« »Stimmt! Und nach Fahrenheit?« »Siebenundsiebzig.« »Stimmt wieder. Ich finde, daß Du eine sehr gute Lebensanschauung hast und Dir die Zahlen sehr gut merkst. Doch gehe jetzt. Dort kommt ein Gast, den ich noch nicht kenne. Ich muß ihn prüfen, ob er würdig ist, in meinem Hause eine Erquickung zu genießen.« Petro ging. Draußen schüttelte er lächelnd den Kopf und murmelte: »Jetzt hat sie die halbe Flasche leer und ist liebesselig.

Wehe dem Gaste, welcher da kommt.« Der Betreffende schien keine Ahnung von dem Empfange zu haben, welcher seiner wartete. Er kam mit rüstigen Schritten herbei. Noch in jugendlichem Alter stehend, machte er einen sehr guten Eindruck. Kräftig gebaut, gab er seinen Bewegungen eine unbewußte Eleganz, welche in dieser Gegend wohl selten zu sehen war. Doch trug er ganz gewöhnliche Kleidung von dunkelblauem Tuche, Jacke, Hose und Weste, dazu bis an die Knie reichende Schaftstiefel und einen breitrandigen schwarzen Filzhut. Die Uhr, welche sich in der Weste befand, war an einer einfachen Gummischnur befestigt, was auf den einfachen Sinn des jungen Mannes schließen ließ, doch trug er an dem kleinen Finger der rechten Hand einen massiven Goldring mit einem höchst werthvollen Diamanten. Ein Kenner hätte es seinen Augen vielleicht angesehen, daß er gewohnt sei, eine Brille zu tragen. Die Stiefel waren beschmutzt und der Anzug sah staubig aus. Der Mann hatte wohl einen weiten Fußweg zurückgelegt. Er grüßte Petro kurz aber leutselig und blieb dann vor dem Eingange stehen, um für einige Augenblicke das sonderbare Schild zu studiren. Dann trat er in die Gaststube. »Buenos dias – guten Tag!« grüßte er. Emeria saß wieder auf ihrem Stuhle. Sie that, als ob sie den Eintretenden weder bemerkt, noch gehört habe. »Buenos dias!« wiederholte er. Auch jetzt antwortete sie nicht. Er setzte sich an einen Tisch. Da er glauben mochte, daß sie schwer höre, so sagte er zum dritten Male und zwar mit sehr erhobener Stimme: »Buenos dias, Sennora!« Da erhob sie sich langsam, drehte sich ebenso langsam nach ihm um, rückte ihre Klemmbrille zurecht, betrachtete den jungen Mann eine ganze Weile und sagte dann in verweisendem Tone: »Ihr wißt wohl nicht, in welcher Weise man zu grüßen hat, Sennor?« Er lächelte leise und antwortete ruhig: »Bisher habe ich geglaubt, es zu wissen.« »Nein, Ihr wißt es nicht!« »So werde ich Euch sehr dankbar sein, wenn Ihr die Güte haben wolltet, es mich zu lehren.« »Warum laßt Ihr meinen Titel weg?« »Ach so! Verzeiht! Aber als ich zum dritten Male grüßte, habe ich es wieder gut gemacht, indem ich den Titel hinzufügte.« »Es war falsch.« »Das sollte mir leid thun.« »Ich bin nicht Sennora, sondern Sennorita.« »Da seht Ihr mich ganz trostlos.

Aber ich konnte wirklich nicht wissen, daß Ihr nicht Frau, sondern noch Jungfrau seid.« »Ihr konntet Euch erkundigen!« »Da habt Ihr Recht und ich bitte abermals um Entschuldigung.« »Ich kann es nicht anhören, wenn das starke Geschlecht um Verzeihung und Entschuldigung bittet. Es ist das so unmännlich.« »Ich glaube nicht, daß unsere Stärke darin bestehen soll, rücksichtslos und grob zu sein!« »Und doch seid Ihr Beides selbst jetzt noch!« »Wieso?« Er hatte bisher freundlich und heiter gesprochen, jetzt aber zeigte sich auf seiner Stirn eine kleine Falte. »Ihr sprecht mit einer Dame und bleibt doch auf Eurem Stuhle sitzen, obgleich Ihr seht, daß ich, die Dame, vor Euch aufgestanden bin!« »Aber erst, nachdem ich dreimal gegrüßt hatte!« »Ihr hattet falsch gegrüßt; da mußte ich sitzen bleiben, um Euch zu strafen.« Jetzt stand er langsam auf und griff wieder nach seinem Hute. »Mich zu strafen?« sagte er. »Sennorita, Ihr scheint Eure Stellung ganz zu mißverstehen. Ihr seid in keiner Weise meine Vorgesetzte; auch komme ich nicht, um Euch zu begrüßen, sondern um Euch eine Erquickung abzukaufen, die ich genießen will und bezahlen werde.« »Das ist ganz gut, aber wer mir nicht gefällt, der bekommt nichts.« »Nun, ich muß annehmen, daß ich Euch nicht gefallen habe und also nichts bekommen werde. Adios, Sennorita! Er wendete sich nach der Thür; aber bereits in demselben Augenblicke stand sie zwischen derselben und ihm. Sie streckte ihm abwehrend alle ihre langen, weit auseinandergespreizten Finger entgegen und gebot ihm: »Halt! Ihr habt zu bleiben! Noch habe ich Euch nicht entlassen. Erst muß ich erfahren, ob Ihr würdig seid, eine Erquickung von mir einzunehmen.« »Wie wollt Ihr das erfahren?« »Indem ich Euch examinire.« »Und Ihr meint, daß ich mir dies gefallen lasse?« »Ja, Ihr müßt! Seht her!« Sie drehte den Schlüssel um und zog ihn ab, so daß er durch das offene Fenster hätte springen müssen. Dann stemmte sie die eine Hand auf den Tisch, die andere in die Seite und fragte ohne alle Einleitung: »Wie kann man sich mittels eines Garnknäuels aus der Quadratur des Zirkels herausfinden?« »Ihr meint wohl aus dem Labyrinth?« »Nein. Ihr wißt es also nicht. Weiter! Warum liegt die Sahara in Afrika?« »Alle Wetter!« lachte er. »Wer das beantworten könnte!« »Ihr nicht, wie ich bemerke. Weiter! Welcher Unterschied ist zwischen der Madonna von Rafael und dem großen Einmaleins?« Er trat einen Schritt zurück. Es begann, ihm angst zu werden. Sie nickte verächtlich und sagte: »Auch das nicht. Also noch die letzte Frage: In welchem Verhältnisse steht Kants Philosophie zu den Eisenbahnfahrplänen der neueren Zeit?« »Hoffentlich in gar keinem!« »Seht, nicht einmal eine so tief in das Verkehrsleben einschneidende Frage könnt Ihr beantworten.

Ich kann Euch nichts verkaufen, weder Porter noch Schnaps, noch sonst Etwas.« »Das habe ich doch bereits gesagt. Darum bitte ich Euch, wieder aufzuschließen.« Sie blickte ihn lange an. Ihr ernstes Auge wurde immer milder, der sonst so eigenthümlich irre Blick lebensvoller. Dann sagte sie freundlich: »Und doch kann ich Euch nicht so von mir gehen lassen. Ihr habt die Probe nicht bestanden; aber in Eurem Gesichte ist so etwas Gutes und Liebes. Es ist mir, als ob wir liebe und gute Bekannte wären, und darum sollt Ihr haben, was Ihr verlangt. Emeria Garezzo examinirt zwar streng, richtet aber voller Nachsicht.« Als sie diesen Namen nannte, zuckte ein undefinirbares Etwas über das Gesicht des Fremden. Er fuhr sich mit der Hand nach der Stirn, als ob er sich auf irgend Etwas besinnen müsse; sein Schnurrbart kräuselte sich unter einem leisen Lächeln, dann ging sein Auge in einem tiefen, fast pietätvollen Blicke über die Gestalt der Wirthin weg und nun antwortete er: »Ja, Sennorita, gebt mir ein Glas Wasser mit Zucker darin.« »Das ist Kindertrank, aber nicht für Männer! »Mir aber heut das Allerliebste!« »Gut, Ihr sollt es haben; ich gebe es sonst keinem Menschen; aber weil Ihr das – das – das Unbeschreibliche im Gesicht habt, so sollt Ihr das Zuckerwasser bekommen.« Sie schloß die Thür wieder auf, ging hinaus und brachte bald das Zuckerwasser herein. Als sie es vor ihn hinsetzte, erklärte sie: »Wasser und Zucker verhalten sich nämlich zu einander wie ein Hydrooxygengasmiskroskop zu einem Faß voll saurer Gurken; einzeln für sich sind Beide zu gebrauchen, thut man aber das Erstere in des Letztere, so ist nichts zu gebrauchen. Was seid Ihr?« »Goldsucher,« antwortete er zögernd, als ob er sich vorher überlegen müsse, welche Antwort er geben solle. »Das habe ich mir gedacht. Die Goldsucher sind stets ohne Wissenschaft und Schule. Ihr seid ein so junger, hübscher Sennor. Schade um Euch! Habt Ihr denn gar nichts gelernt?« Es zuckte fast schalkhaft über sein Gesicht, als er antwortete: »Nur ein Bischen zeichnen.« »So! Was zeichnet Ihr denn?« »Köpfe nach dem Leben und nach der Phantasie.« »Nun, ich bin Künstlerin, nämlich Dichterin, Componistin, Malerin und Bildhauerin; auch mime ich. Ich werde sehen, was Ihr leistet. Da habt Ihr Bleistift und Papier. Zeichnet mir einmal einen Kopf.« Er zog das Blatt zu sich heran und griff zum Bleistift.

Fast in demselben Augenblick gab er Beides wieder zurück. Es war, als habe er nur einen Strich gemacht, so schnell war er fertig. Sie ergriff das Blatt, warf einen Blick darauf, ließ es sinken und starrte den Fremden sprachlos an. Erst nach einer langen, langen Weile kam es mühsam über ihre Lippen: »Mein Gott! Das ist Er – Er – Er, so, wie er vor mir stand, als er mich in die Geheimnisse des Dalai Lama und des Melonenpflanzens einweihte. Ja, das ist er, wie er leibt und lebt. Das ist seine Stirn, seine Nase, sein edles Profil. Er ist so gut, so genau getroffen, daß er sprechen könnte, wenn er wollte. Sagt einmal, Sennor, ist diese Zeichnung ein Phantasiestück oder nicht?« »Nein. Die Phantasie hat mir nicht den Stift geführt. Ich habe nach dem Leben gezeichnet.« »Nach dem Leben! Also doch! Ihr kennt ihn?« »Ich habe das Original dieses Portraits gesehen.« »Mein Gott, welch ein Zufall! Endlich, endlich werde ich Etwas von ihm zu hören bekommen!« »Macht Euch keine allzu großen Hoffnungen, Sennorita. Ich habe ihn gesehen; weiter aber kann ich doch auch nichts von ihm sagen.«

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