Hier, mein lieber Nobody, das ist wieder etwas für Sie, da müssen Sie gleich hin.« Mit diesen Worten reichte Mr. World seinem stillen und doch so tätigen Kompagnon eine Zeitung und deutete auf eine gewisse Stelle, die dieser lesen sollte. Es war ein wöchentlich erscheinendes Blatt, auf rotem Papier gedruckt, das gleich seinen Inhalt kennzeichnete; denn es enthielt immer nur die sensationellsten Tagesneuigkeiten. Am bevorzugtesten waren grausige Morde, so blutrünstig wie möglich, von entsprechenden Illustrationen erläutert: wie ein Mann seine Frau im Bett mit Petroleum übergießt und anbrennt, wie eine Dame aus dem Luftballon stürzt und auf der Erde zerschmettert – und nun kann sich der Leser denken, was für eine Zeitung es war. Um indes auch das höhere Ziel einer Zeitung im Auge zu behalten, um auch »bildend« auf das Publikum zu wirken, brachte dieses Wurstblättchen außer Koch- und Fettfleckenrezepten allwöchentlich unter der Rubrik »Die neuesten geographischen Forschungen aus aller Welt« einen besondern Artikel, der irgend eine sensationelle Entdeckung aus der Land- und Völkerkunde behandelte, und da stand heute folgendes zu lesen: »Im Kalifornischen Meerbusen liegt eine kleine Insel, welche von den Schiffern ängstlich gemieden wird. Denn auf ihr erhebt sich ein Berg, der aus reinem Magneteisen besteht, und dessen Anziehungskraft so groß ist, daß nicht nur ein eiserner Dampfer, sondern sogar jedes hölzerne Segelschiff schon aus meilenweiter Entfernung unwiderstehlich angezogen wird, aus dem einfachen Grunde, weil doch die hölzernen Planken durch eiserne Nägel verbunden sind und auch sonst jedes Schiff immer eiserne Gegenstände an Bord hat. Die ganze Küste ist mit Schiffstrümmern bedeckt, und nur selten einmal gelingt es einem Schiffbrüchigen, sich wieder von der Insel freizumachen. Er muß sich zu diesem Zwecke ein Floß fertigen, welches er aber nur mit Stricken zusammenbinden darf. Kommt ein hölzernes Schiff zufällig in die Nähe der Magnetinsel und fühlt sich schon angezogen, so bleibt der Mannschaft nichts andres übrig, als in die Boote zu gehn, aus denen sie aber vorher alle eisernen Nägel entfernen muß, während ein eiserner Dampfer unrettbar verloren ist. Wie wir hören, läßt jetzt ein amerikanischer Kapitän ein hölzernes Fahrzeug bauen, bei dem nur kupferne Nägel verwendet werden – Kupfer wird bekanntlich nicht vom Magneten angezogen – um auf diese Weise ungefährdet die geheimnisvolle Magnetinsel erforschen zu können, und wir werden später ausführlich von dieser Expedition berichten.« Nobody ballte das rosenrote Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb. »Horrender Unsinn!« knurrte er ärgerlich. »Wie nur eine Zeitung wagen kann, dem Publikum so etwas zu bieten!« »Ja; und doch gibt’s genug Leute, die das sogar für bare Münze nehmen!« »Von wem wird denn das Schundblatt gelesen?« »O, es hat in den einsamen Distrikten Amerikas eine gar große Verbreitung, es geht bis in die entlegenste Hinterwäldlerhütte. Jeder Goldgräber kauft sich, wenn er einmal in eine Ansiedlung kommt, das rote Blatt. Die wollen doch auch wissen, was draußen in der Welt passiert, und nun die blutigen Bilder, der blutige Stil, die ganze Ausstattung – das imponiert solchen Leuten, sie kaufen es, sie abonnieren sogar darauf.« »Desto unverantwortlicher ist es, wenn man solchen Leuten, die in ihrer Einsamkeit wirklich wissenshungrig sind, so etwas auftischt! Da schadete eine polizeiliche Zensur wirklich nichts. Wie der Schreiber nur auf so ein Märchen gekommen ist?« »Das hat er einfach so aus der Luft gegriffen, das Papier muß doch voll werden!« meinte der alte World. »Nein,« sagte da Nobody mit Betonung, »alles hat einen reellen Hintergrund, wie jede mythische Sage, so auch jedes Märchen. Oder aber der Verfasser ist ein echter, ein gottbegnadeter Dichter, und das darf man wohl von diesem Skribifax, der in solch jämmerlichem, unbehilflichem Stile etwas wiedererzählt, nicht annehmen. Irgend etwas Wahres ist stets daran.« Nobody griff wieder nach dem verächtlich fortgeschleuderten Blatte, faltete es auseinander und las jenen Artikel noch einmal, war dabei ganz in Gedanken versunken. Dann stand er auf, trat zu einer großen Wandkarte und wandte seine Aufmerksamkeit der Kalifornischen Halbinsel zu. »Sie wollen wohl wirklich nach Kalifornien?« platzte Mr. World endlich heraus, nachdem er Nobody zuerst still beobachtet hatte.
Dieser drehte sich ihm wieder zu. »Allerdings!« sagte er ernst. »Um im Kalifornischen Meerbusen die unheimliche Magnetinsel aufzusuchen?!« lachte der alte Herr jetzt aus vollem Halse. »Mann, Nobody, Sie werden doch nicht auf solch ein Kindermärchen hereinfallen, das ist doch der purste Humbug!!« »Na, na, Mr. World, nun seien Sie mal gefälligst still!« entgegnete Nobody. »Wenn jemand an solche Zeitungsenten immer geglaubt hat, dann sind Sie’s doch gewesen, und ich habe Mühe genug gehabt, Sie von Ihrer Leichtgläubigkeit zu kurieren, und wenn es immer nach Ihnen gegangen wäre, dann hätte ich Geld genug umsonst verfahren, und wir beide hätten uns manchmal unsterblich blamiert. Oder ist’s nicht so?« Ja, so war es, und der alte Verleger schwieg beschämt. Es ist schon früher wiederholt erzählt worden, was für seltsame Ideen Mr. World manchmal hatte, wie er jedesmal, wenn die Zeitungen irgend ein Märchen auftischten, Nobody immer gleich hinschicken wollte. Es sei nur an den in Brasilien vergrabenen Hund der Donna Dingsda erinnert. »Ja, ich werde allerdings einmal einen Abstecher nach jener Gegend machen!« fuhr Nobody fort. »Ich kenne Kalifornien zur Genüge, desgleichen Mexiko, aber noch nicht die zur Republik gehörige Kalifornische Halbinsel. Morning!« Nobody hatte nach seiner Taschenuhr geblickt; nun ein leichtes Kopfnicken, und er ging. Mr. World sah ihm nach. Wohin begab sich Nobody? Vielleicht saß er fünf Minuten später, so wie er jetzt war, auf der Pacificbahn und sauste quer durch Amerika hinüber an die Küste des andern Ozeans. Das war so Nobodys Weise, wenn er etwas vorhatte, darin hatte ihn sein Verleger nun schon kennen gelernt. Aber diesmal sollte sich Mr. World geirrt haben. Wenigstens ging es jetzt nicht ganz so fix. Nobody schlenderte sogar recht langsam die Straßen entlang, und er beschleunigte erst seinen Schritt, als er plötzlich über das Pflaster hinübersteuerte. Er mußte ein bestimmtes Ziel ins Auge gefaßt haben. »Hallo, Wilhelm Petersen, wie geht’s? Auch wieder einmal in New-York?« Der Angeredete war ein noch junger, untersetzter Mann, mit ein paar Schultern, deren sich Herkules nicht hätte zu schämen brauchen, durch seine Kleidung wie durch sein ganzes Aeußere den Seemann verratend, und zwar den deutschen, der etwas auf sich hält. Ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, musterte er mit seinen scharfen, blauen Augen den vor ihm stehenden, hocheleganten Herrn. »Kenne Euch nicht!« lautete dann sein Urteil.
»Heliotrop, Kapitän Flederwisch – und der andre, der zur Kompanie gehört, das bin ich!« Wie Sonnenschein flog es über das offne, wettergebräunte Gesicht. »Ach, Mister … weiß schon. Ihr wollt niemals gekannt sein. Das ist ja famos, daß ich Euch wieder einmal die Hand schütteln kann!« Und die schwielige Arbeitshand schüttelte denn auch die schlanke, aber nicht minder kräftige des andern, als sollte der Arm ausgerenkt werden. Es war zwei Jahre her, daß Nobody auf seiner eignen Jacht die Westküste Südamerikas befahren hatte. Es lag etwas Besondres vor, er hatte in alle Hafennester gucken müssen, hatte deshalb einen eignen Lotsen an Bord gebraucht. Ein deutscher Steuermann war gefunden worden, hier, der Wilhelm Petersen, welcher behauptete, die ganze Westküste wie seine Hosentasche zu kennen, und er hatte nicht geprahlt, es war an dem gewesen. Nobody hätte um alles in der Welt gern den prächtigen Menschen für immer an sich gefesselt; aber es gelang ihm nicht. Wohl war Wilhelm Petersen ein internationaler Seezigeuner gewesen, dem solch ein abenteuerliches Vagabundenleben behagte; aber gerade nach Beendigung jener Reise war etwas dazwischengekommen, was seinem ganzen Leben eine andre Richtung gab. Sein kranker Vater, ein alter pensionierter Kapitän, hatte ihn nach Hause gerufen, und auf dem Sterbebett hatte ihm der Sohn das Versprechen gegeben, von jetzt ab ein zielbewußtes Leben zu beginnen, ein deutscher Kapitän zu werden, so wie es alle Petersens gewesen waren – und um Kapitän werden zu können, brauchte Wilhelm noch einige Jahre Seefahrtszeit, und auf dem deutschen Seemannsamt gilt nur die, welche unter deutscher Flagge geleistet worden ist. Wilhelm erzählte, daß er erst gestern von einem deutschen Segler abgemustert worden sei, welcher wegen Reparatur hier in Dock gehn mußte. »Habt Ihr schon wieder angemustert?« »Behüte! Das war eine Höllenfahrt auf dem lecken Kasten, von der muß ich mich erst ein bißchen erholen.« »Hm!« brummte Nobody nachdenklich. »Wart Ihr eigentlich auch schon in Nieder-Kalifornien? Die lange Halbinsel meine ich.« »Na und ob und wie! Das heißt, ich kenne immer nur die Küsten und die Hafenstädte. Gerade an der Ostküste von Nieder-Kalifornien kenne ich jedes Loch, ebenso die gegenüberliegende Küste von Mexiko und das ganze Wasser, was dazwischen liegt. Ich bin da ein Jahr lang auf einem Marketenderschiffe gewesen, wir brauten den Pulk gleich an Bord und verkauften dieses köstliche Gesöff, das ungefähr wie faule Limonade schmeckt, an die mexikanischen Fischer.« »Auf einem Marketenderschiffe seid Ihr gewesen? Donnerwetter, da allerdings müßt Ihr dort etwas erlebt haben. Hört, ich habe die Absicht, mir einmal diese Gewässer anzusehen. Wollt Ihr mich begleiten?« Der junge Steuermann zögerte doch zuerst etwas. »Als was? Auf Eurer Jacht? Hm, ich bin …« »Nein, mit der Pacificbahn, es ist nur eine Vergnügungstour, länger als zwei Monate darf sie nicht dauern; wir jagen mit der Pacific hin, und Ihr sollt mein Reisegesellschafter und mein Mentor sein.« »Topp, da bin ich dabei!« rief Petersen jetzt erfreut. »Gut, und da wollen wir gleich unsre Vorbereitungen treffen, dort ist ja … einen Augenblick.«
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