Men Huleb schläft, – die drei schlafen – ganz Malmotta schläft … Nur ich nicht. Ich habe leise die Jacht verlassen, die in der Lagune ankert, – ganz leise ruderte ich bis zum hellen Korallenstrand und schritt im Silberglanz des Mondes zum Berge und betrat die Grotte. Nun schreibe ich. … Wie man so schreibt, wenn die Seele wachgerüttelt ist und das Empfinden des Menschseins sich wieder meldet. Men Huleb konnte mich nicht herausreißen aus den Abgründen des Schmerzes, in denen wir wie blind umhertappen und uns das Herz nur noch blutiger stoßen an den finsteren Zacken, die sich „Hadern mit dem Geschick“ nennen. Men Huleb ist nur ein Affe, und er ist mir noch fremd. Er konnte mir nichts sein, nichts geben, – ich habe ihn gepflegt und behütet, und meine Gedanken waren doch immer nur bei dem einen Grabe dort an der Nordbucht: Bei Jane und Fennek! Es mußten erst Menschen erscheinen hier auf meiner Insel, und Menschen wie die drei in dem kleinen Boot, also keine Durchschnittsgeschöpfe, sondern Leute, denen der Wind des Schicksals das Hirn zerfetzt hatte – so ganz allmählich, wie es eben Schicksalswind wohl fertig bringt … allmählich, – gleich den Sandkörnchen in der Arabischen Wüste, die die Felsen benagen und aus Felsen pilzartige Gebilde schaffen, bis dieser närrische Steinmetz sie völlig zermürbt … so etwa … – Die drei, die heute hier auf der Insel landeten, halbtot, halb verrückt vor Durst, von der Sonne verbrannt, ausgedörrt, – – ja die drei weckten mich auf. Besonders der eine. Larsen heißt er. Norweger. Peter Larsen … – Hört man fremdes Leid, hört man über verdorrte Lippen Worte stolpern, die grauenhafte Visionen aufflackern lassen, – vergleicht man dann das Leid mit dem eigenen: Dann besinnt man sich auf sich selbst und erkennt, daß jedes Übermaß an Trauer nur Schwäche ist. – Ich schreibe … Unten an der Ostküste braust die Brandung. Musik des Stillen Ozeans … Die ich liebe … Ich höre aus dem Gemisch der Töne brechender Wogenkämme, die zu Gischt zerflattern und dann zurücksinken in den Schoß der Urmutter „Ozean“ und von neuem geboren werden, – – ich höre Janes weiche tröstende Stimme und Fenneks eigenartiges Bellen … Bisher rannte ich in solchen Augenblicken, wo die Toten mit mir sprachen, in dem unbeherrschten Überschwang meines Schmerzes hin zum Grabe und warf mich über die Steinplatte und … Doch nein!! Das war!! Das darf nicht nochmals geschehen. Trauer und Sehnsucht und wütendes Hadern mit den unerforschlichen Machtsprüchen dessen, der dort über den Sternen wohnet und mit kluger Hand uns Menschlein auf dem Schachbrett des Lebens hin und her schiebt, – – auch das muß Maß und Ziel und Hindernisse haben, damit all das nicht ausarte zu kränklicher Hysterie … Das war. Peter Larsens Geschichte machte mich gesund. Man denke: Ein Dampfer – Taifun – Nacht – Blitze, – Peter Larsen als Kapitän auf der Brücke, in den überschwemmten Kajüten wimmernde, heulende, von Todesangst gefolterte Weiber, Kinder … Sein Weib dabei … Zwei Kinder, blond wie er … Sein Weib … Ein Wasserberg naht … – Der Dampfer kentert … – – Kentert. Wißt ihr, was das heißt: Kentert?! Wißt ihr, was denen geschieht, die da in den Kabinen stecken?! Sie ertrinken … Langsam … Alle … Langsam … Der Dampfer treibt, Boden nach oben, Schornstein, Masten nach unten … So treibt er, torkelt über die Wogen, und saugt Wasser … Langsam … Langsam füllen sich die Kabinen … Menschlein ertrinken …. Langsam … Und oben auf dem Kiel reiten drei Männer, die der Ozean wieder ausspie, und zwei halten den einen fest, der hinab will … sterben … Aber sie halten ihn, und zum Hohn zieht der Taifun vorüber, Sonne scheint, und … sie leben, die drei – als einzige von hundertachtzig Menschen. Der, den sie hielten, war Larsen. Larsen verlor Weib, zwei Kinder, Schiff, – – alles … alles … Und besann sich auf seine Pflicht. Er war ja nicht allein, und wenn seine Gefährten auch nur ein schmieriger Niggerheizer mit grauem Wollkopf und schnapsvertierten Zügen und der dritte nur ein lahmer, noch schnapsgierigerer Kanake von einer Südseeplantage war: Es waren zwei von seinem Schiff, und er war Kapitän und mußte diese Elenden retten: Pflicht!! Kalte Pflicht, heißes Pflichtgefühl, geboren, gewachsen, verankert in der Seele eines Mannes – wie Peter Larsen! Er drückte mir gegenüber das alles noch schlichter aus. In dieser Schlichtheit lag seine Größe. Ein Mann eben. Und da … schämte ich mich. Er erzählte weiter: „Ich sah das kleine Rettungsboot an langer Leine hinter dem Wrack herbaumeln, voll von Wasser, getragen von den Luftkästen … Ich sah im Morgenlicht hier diese Insel wie einen dunklen Fleck am südlichen Horizont, und ich rutschte hinab bis zu der stillen, toten Schraube aus Bronze am Heck und zog das Boot näher und entleerte es und gab einem frechen Hai einen Nasenstüber mit dem Absatz … Vier Jahre fahre ich in der Südsee, – noch zehn Jahre, und ich wäre als reicher Mann heimgekehrt in meine Vaterstadt Bergen, die Heringsstadt.
Nun besitze ich nichts mehr, denn mein Schiff war nicht versichert, – ich hatte es „Hardanger“ getauft, und ich traute meinem Glück.“ Als er mir dies um die Mittagsstunde, nachdem er sich ein wenig erholt hatte, mit heiserer Stimme berichtete, lag er auf dem Wanddiwan der großen Kajüte der Jacht, und wir waren allein. – Men Huleb war zwar mit dabei, aber er rechnet nicht als Persönlichkeit. Vorläufig nicht. Ich werde sehen, wie er sich entwickelt. Mantelpaviane sind schwer zu zähmen. Und Men Huleb ist jetzt schon ein muskelstrotzender Kerl. Aber über ihn werde ich nachher reden. Peter Larsen ist ein blonder Hüne von jenem schweren Körperbau der reinblütigen Nordländer, die immer seltener werden. Sein stoppelbärtiges Gesicht, von dem die durch Salzwasser und Sonne vernichtete Haut in Fetzen herabhängt, besitzt als schönstes die klaren, lichtblauen großen Augen mit stillem, sinnenden Ausdruck – Augen jener Wikinger, die einst mit ihren Schiffen die Hafenstädte brandschatzten und das Trinkhorn schwangen und den Kampf als Spiel ansahen und an den Schwertgott Tyr und an Odin glaubten. Peter Larsen gefällt mir. Er mag dreißig, fünfunddreißig alt sein. „… Das Glück war mir viele Jahre treu geblieben, – erst besaß ich nur einen Schoner, dann eine Brigg, dann kaufte ich den Dampfer, 2800 Tonnen … Ich nahm Weib und Kinder und Schwester mit, und ich klapperte die Südseeinseln ab und verdiente.“ „… Wie Käpten Bolk,“ warf ich hin, und mein Herz klopfte schneller, denn Bolks Name ist unzertrennlich von dem meines toten Weibes Jane oder Johanna, geborene Petersen. Larsens blaue Sterne begegneten den meinen. „Den kenne ich, Landsmann, den Bolk … Ein Mann mit … mit einem leichten Knacks, sonst ein tüchtiger Bursche. – Was ist das hier übrigens für eine Insel?“ „Malmotta.“ Er sann nach. „Habe irgendwo davon gehört.“ Mein Herz schlug noch rascher. „Malmotta kommt und geht, Larsen … Zur Zeit hat sie Sehnsucht nach der Sonne … Nicht lange. Ein paar Jahre, dann verschwindet sie wieder.“ Er nickte nur. „Ich hörte die Insulaner der Gilbert-Gruppe davon orakeln, Abelsen. Also eine der wenigen Inseln, die auftauchen und verschwinden … wieder auftauchen, wieder verschwinden.
– Lassen Sie mich weiter erzählen … Daß mir’s sehr schwer wurde, mich von dem Wrack zu trennen, in dem die Leichen meiner Lieben steckten, – daß ich in der törichten Hoffnung, irgendwelche Klopftöne könnten noch aus dem Eisenrumpf Hilfe heischen, noch Stunden ausgeharrt hätte, – – wohl selbstverständlich! Aber Moses, der Schwarze, und Krikatawu, der Mann von den Cookinseln, verlangten die Abfahrt. Nun treibt das gekenterte Wrack als Leichensarg mit der Strömung gen Osten. – Wir ruderten auf den Fleck Land zu, doch es war uns nicht beschieden, ihn so bald zu erreichen. Es brach ein neuer Sturm herein …“ „… Vor acht Tagen …“ „Mag sein … Wir haben die Tage nicht gezählt, wir kämpften um das bißchen Leben und hungerten und dürsteten, und als der Himmel sich klärte, war um uns her nichts als Meer und Himmel. – Ich brauche Ihnen wohl kaum Einzelheiten zu schildern, Landsmann. Mir scheint, Sie wissen Bescheid, was es bedeutet, ohne Proviant und ohne Trinkwasser in einer Nußschale den Pazifik zu durchqueren. – Wir ruderten … Die Sonne zerfraß uns Haut und Hirn, und als Moses Jamestown mit dem Bootshaken einen Hai erwischte, fraßen wir das rohe Fleisch und soffen das Blut … Leider stank der Hai schon nach zwei Stunden derart, daß wir ihn über Bord schmissen. – Es mag am Haiblut gelegen haben, Abelsen, – denn ich schoß noch eine Bestie, und in unser Blut kam etwas Fremdes, Grausiges … Ich konnte keinen mehr schießen, die Patronen waren verbraucht, der Bootshaken gebrochen. Nach Tagen – wir lagen meist untätig da und erwarteten das Ende, den Sonnenstich, den Sprung ins Meer – ja, nach vielen Tagen sprach Moses davon, daß einer sich opfern müsse … Wir sollten darum losen, wer dran glauben müßte … – So vertiert waren wir … Fremdes Blut in den Adern tut nie gut, Abelsen … Und die Fidschi-Leute behaupten, schon Haifischfleisch verlocke nach Menschenfleisch … So vertiert waren wir …“ „Die Sonne …“ sagte ich mitleidig. „Mag sein, – wir waren halb verrückt … Wir losten. Wir schnitten drei Holzspäne ab … Wer den kürzesten aus der Mütze zog, der sollte sterben … Damit die andern noch leben könnten – vielleicht noch einen Tag … Wir waren verrückt …“ „Die Sonne,“ tröstete ich. Er lachte schrill. „Abelsen, ich griff als erster in die mit einem Taschentuch bedeckte Mütze … Und zog den längsten Holzsplitter. Da fielen die beiden Farbigen über mich her und wir kämpften wie die Tollhäusler, aber meine Faust schuf Frieden, und wir gelobten einander, dieses Spiel nicht wieder zu versuchen. Da fing ich mit dem Ruder und einem Stück Segel ein Dutzend Palolo-Würmer … Kennen Sie die?“ „Ja, sehr gut,“ – und ich dachte an die Nacht, als ich Men Huleb fand. „… Wenn Sie sie kennen, werden Sie begreifen, wie weit wir zu Bestien, zu Schweinen geworden … Kein Schwein auf den Gilbert-Inseln frißt diese Schlangen. Wir fraßen sie … Und dann wurden wir krank, beschmutzten das Boot, wanden uns in Krämpfen und erwachten hier bei Ihnen, Abelsen. Sie hatten unser Boot erspäht und holten es in die Lagune. Jetzt leben wir wieder. – Das ist alles, Abelsen.“ „Es ist genug,“ sagte ich und gab ihm Brandy zu trinken. – Nun schläft er. Alle schlafen. Ich schreibe. Hier in dieser Grotte habe ich mit Jane so glückliche Stunden verlebt, und Fennek-Mukki hat uns Gesellschaft geleistet und auf Janes Schoß gelegen, und dann kam die Jacht mit den Meuterern, und … drüben das Grab enthält mein Alles – genau wie das gekenterte Schiff „Hardanger“ Larsens Herz einschließt: Seine Lieben! Ich will nicht mehr daran denken und nicht mehr in dem Schmerz wühlen und die Wunden nicht immer wieder aufreißen.
Ich will nicht. Aber – es ist schwer, und gerade hier in dieser Steinhöhle mit dem Tisch aus Brettern und der Lagerstatt aus Brettern und all dem Sonstigen, das an Jane und Fennek erinnert, fühle ich mehr denn je in dieser stillen Nacht die Größe dessen, was ein paar Kugeln mir raubten. Menschen sind da. Gewiß. Drei Menschen. Übermaß an Schmerz ist Schwäche. Gewiß. Aber – ich bin verwöhnt gewesen, ich habe Fennek gehabt, bevor Jane mich liebte, und Fennek liebte mich, wie nur ein Tier lieben kann … selbstlos, hündisch-treu. Und hündisch-treu ist die Treue der uneigennützigen Kreatur. … Das Gefühl der Einsamkeit überfällt mich jäh wie ein schwarzes Gespenst und zeigt mir sein Angesicht, – und das ist die Leere in meiner Seele. Ich beiße die Zähne in die Unterlippe … Schreien möchte ich – brüllen … Jane … Fennek … Einsamkeit … … Und da huscht etwas neben mich, eine spitze Hundsnase schiebt sich in den Bereich des Lichtkreises der Karbidlampe, und … Men Huleb klettert mir auf den Schoß, legt seinen langen Affen-Arm um meinen Hals und grunzt leise. Ich sitze ganz still, – des Mantelpavians große braune Augen blicken mich an, und wieder grunzt er und schmiegt sich an mich und … schnattert irgend etwas … irgend etwas. Seine linke Hand kraut die dichte Mähne, und plötzlich hält er zwischen den schwarzen Fingern eine Hülse, die an einem Faden, aus dunklen Haaren gedreht, befestigt ist und die ich bisher nie bemerkte. Aber die Hülse ist mir gleichgültig. Men Huleb hat mir sein Herz gezeigt, und ich spüre seine dankbare Zärtlichkeit wie etwas ungeahnt Köstliches, das ich nie mehr erhoffte. Men Huleb ist mein Freund geworden.
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