Nach unfaßbaren Gesetzen tauchen von Zeit zu Zeit die Großen der Geschichte aus Dunkel und Vergessenheit wieder ans Licht. Das vorliegende Buch steht unter dem gleichen Gesetz, das Jean Paul jetzt, hundert Jahre nach seinem Tode, wieder in unser Gesichtsfeld rückt. Hundert Jahre würde es dauern, prophezeite der glühende Börne, bis »sein schleichend Volk« ihm nachgekommen ist. Heut ist es so weit. Die Erschütterungen des Weltkriegs und der Nachkriegsjahre haben den Boden gelockert. Wir sind bereit, Jean Paul zu empfangen. Nachträglich ist es leicht erklärt, wie dieser große Dichter uns so lange entschwinden konnte. Von der größten Epoche deutscher Dichtung – viel größer als heute unsre Zünftigen ahnen – nahmen wir bisher nur auf, was durch Fleiß oder Intellekt überliefert werden kann. Untersank alles, zu dessen Aufnahme es eines aufgelockerten Menschentums bedarf. Untersank die seit Klopstock, in Hamann, Herder, Jean Paul nach einer deutschen Form suchende Bewegung. Das Feld beherrscht Goethe als Repräsentant einer im Persönlichkeitskultus hängenden Gesellschaftsschicht, und Kant, der den Mythos tötete. Persönlichkeit als Repräsentant formaler Bildung, Wissenschaft als logische Durchdringung der Welt. Der Zusammenbruch offenbarte, was uns fehlt: nicht Tüchtigkeit und Wissen, sondern Totalität und Herz. Jean Paul ist nur nachzuleben, nicht auf eine Formel zu bringen. So mußte er, wie die Träger des Mythos jener Zeiten, uns entschwinden. Die Formel vererbte sich auf Kind und Kindeskinder, das Wesen entzog sich uns. Es ist nicht lehr- und lernbar, durch keine Tüchtigkeit, nur durch umfassendes Menschentum zu umgreifen. Jean Paul ist eine Welt. Wer ihr Zentrum nicht erfaßt, dem muß er überladen, zerstreut, barock erscheinen. Wer ihn begriffen hat, für den hat er den Formenreichtum der Gotik und das Allumfassende der Liebe. Er dient nicht seinem Werk, sondern seiner Sendung. Deshalb ist es schwerer, ihn zu lesen als einen Dichter, der nichts als sein Werk will. Er aber drückt sich selbst und sein Wesen, und damit das Wesen aller Dinge, im Werk aus. Es ist nur der Mittler zu seiner Welt voller Liebe und Geist. Aus unberührtem Neuland aufsteigend, durchdringt er die verschiedenen Schichten alten und neuen Bildungsgutes, die über Europa lagern.
Wie ein Schwimmer stößt er ruckweise vorwärts, durch den Rationalismus, den Pietismus, durch Goethe und Schiller und die junge Romantik hindurch, um an allen diesen Stationen sich selbst zu verwirklichen. In ihm antwortet gewissermaßen die ewige Natur auf alle Fragen und Probleme des Geistes, und antwortet in unübersehbaren Bänden. Er ist nicht irgendein großer Dichter, sondern wie eine Naturkraft, und er hat die Weite einer Welt. Was uns heute aus der Exotik kommt und uns müde und überladene Europäer wie eine Offenbarung erschüttert, auch das liegt schon alles in ihm. Wie die Erde scheint er durch die Weisheit Laotses und die Stärke der Inder hindurchgegangen zu sein. Der Waldzauber Wolfram von Eschenbachs, seines Landsmanns, schwingt in ihm fort, und er lebt wie einer der Jünglinge der neuesten Jugendbewegung. Er hat die Kuriosa des Menschengeschlechts aus allen nur möglichen verschollenen Büchern und Urkunden aufgelesen; das Schrifttum aller Zeiten und Völker ist ihm vertraut, am vertrautesten aber die Urtatsachen des Lebens, Geburt und Tod, Liebe und Freundschaft. Er malt die Erschütterungen des ungeheuren Schmerzes und die Entzückungen sich umklammernder Seelen. Er führt die Beladenen und Verstoßenen an die auch für sie gedeckten Tafeln der kleinen Freuden. Er löst die Landschaft in kosmische Gewalten auf, und sieht die Menschheit wie einen Salpeter, der an verschimmelte Wände anschießt. Der Blickwinkel eines Käfers und die Weltschau eines Gottes sind ihm gleich vertraut. Wie stellt sich das Werk Jean Pauls dar? Wenn man die Elemente dieses Werks auseinanderlegte, müßte man glauben, die Rudimente eines großen Lyrikers vor sich zu haben. Von solcher Intensität ist seine Sprache, von solcher Losgelöstheit sind seine Bilder, so gedrängt, »gedichtet« das Leben. Und doch entlädt er seine Gesichte in sechs gigantischen Romanen und ihrem Bände erfüllenden Beiwerk. In zwei theoretischen Werken, über Dichtkunst und Erziehung, die beiden Leitpunkte seines Daseins. Und in unüberschaubaren Schriften satirischen, philosophischen, politischen Inhalts. Aber dies alles ist nur der empirische Leib seiner metaphysischen Schau, wie der Kandidat und spätere Legationsrat Richter nur die empirische Gestalt des metaphysischen Menschen Jean Paul ist. Dahinter steht die Welt und das Wesen, zur reinsten Form geläutert, unbelastet von bloßem Stoff und Ungeformtem. Eine Welt wie die empirische, aber notwendig und Geist geworden, verwandelt durch ein Herz, das durch Liebe und Kraft schöpferisch ward. Und doch wieder in den Leib der Sprache und der Gestalten eingegangen, daß man den metaphysischen Jean Paul nur begreift, wenn man den empirischen erfaßt hat. Unaufhaltsam wälzt sich der Strom seines Schaffens vorwärts, aber schließlich doch zu Einzelwerken gerinnend. Nicht ganz kann alles von den großen Abschnitten, als die seine einzelnen Werke sich darstellen, erfaßt werden. Unendliches Beiwerk säumt die Ufer. Aber das Werk ist die Form der dichterischen und geistigen Manifestation. Die einzelnen großen Werke werden deshalb im Vordergrund unsrer Darstellung stehen, und sie dürfen es, wenn wir wissen, daß sie das Letzte und Größte bei ihm, aber nicht alles sind.
Ein unendlich mühsamer Prozeß ging voraus, ehe die Welt Jean Pauls sich zu ihrer Form, zum Werk, verdichtete. Den gleichen Weg muß die nachschaffende Darstellung zurückverfolgen. Es wäre leichter, wenn man allgemeine Kenntnis des Materials wenigstens in den Grundzügen voraussetzen dürfte. Wer aber weiß heute etwas von Jean Paul? Wer hat auch nur seine Hauptwerke gelesen, ja kennt auch nur ihre Titel? Sind doch sogar die meisten seiner Schriften nicht einmal im Buchhandel zu haben. Wir durften also nichts voraussetzen und müssen, unsre Darstellung belastend, Stoff sogar als Selbstzweck herantragen. Schon einmal, bei E. T. A. Hoffmann, leistete ich diese Kärrnerarbeit. Eine undankbare Aufgabe! Und allem widerstrebend, was unsre hoch entwickelte literarästhetische Methode endlich erobert hat. Fort von der Empirie zur Deutung des metaphysischen Phänomens! Aber die empirische Gestalt muß vorliegen, wenn man über sie hinaus will. Hier aber ist erst die Gestalt zu erobern, noch lange nicht »Literaturgeschichte als Problemgeschichte« zu schreiben. Der diese Forderung erhob, beschenkte uns mit dem ersten bedeutenden und tiefen Werk über Hamann, aber mit dem Ergebnis, daß Hamann heute genau so wenig im Bewußtsein der Zeit vorhanden ist wie vordem. Gundolf, Unger, Walzel, Korff und andere haben eine Höhe der reinen Anschauung erklommen, die sie den schöpferischen Geistern nähert. Sie sind in die Tiefe der Persönlichkeiten und der Dinge gedrungen und haben letzte Erkenntnis des Schöpferischen gegeben. Aber eines scheint dabei in Gefahr: das einmalige und ganz persönliche Erlebnis der einzelnen Dichter, ihre Gestalt. Das Schöpferische wird ins Typische projiziert, die bestimmten Umrisse verdämmern.
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