Als gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts der »Graf« Cagliostro trotz mancher schon erfolgten Bloßstellungen noch immer mit seinen Wundern, seinem theosophischen Mystizismus, seinen spiritistischen und anderen Betrügereien halb Europa zum besten hatte und Reichtümer damit erwarb, schrieb 1787 Charlotte Elisabeth von der Recke, Tochter des Reichsgrafen von Medem, zu Mitau ihre Enthüllungsschrift: »Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und von dessen magischen Operationen« [Weniger ausführlich hatte Elisa bereits im Jahre 1786 im Mai-Heft der »Berlinischen Monatsschrift« ihre Verirrung bekannt und vor Cagliostro gewarnt als einem »Betrüger, der weitaussehende Pläne hat, welche durchzusetzen er Welt- und Menschenkenntnis genug besitzt und sie dazu auf die unwürdigste Art mißbraucht«.] Mit großer Schonungslosigkeit gegen sich selbst, die der Gaukler lange Zeit völlig umgarnt hatte, deckte sie seine dreisten Schwindeleien auf, und die Schrift machte in ganz Europa ein ungeheures Aufsehen. Es war eine kühne sittliche Tat, daß die Schwester der Herzogin von Kurland unter Preisgabe der eigenen Person und nächster Angehöriger den Betrüger entlarvte, und als Verfasserin dieser Schrift erlangte Elisa von der Recke schnell europäische Berühmtheit. Daneben erwarb sie sich im Laufe ihres langen Lebens eine bescheidenere Berühmtheit als Dichterin und Schriftstellerin. Dieser kleinere Ruhm ist längst verblaßt, mit Recht sind jene literarischen Erzeugnisse vergessen, die Elisa zu ihren Lebzeiten veröffentlicht hat. Dagegen hat sie der Nachwelt zwei Manuskripte hinterlassen, die als Dokumente eines Frauenherzens und als Kulturbild baltischen Adelslebens gleich der Schrift gegen Cagliostro nie aufhören werden, den Leser zu fesseln. In ihrem Testament hatte Elisa die zwei Manuskripte, für die Veröffentlichung vorbereitet, das eine der Königlichen Bibliothek zu Berlin, das andere der Königlichen Bibliothek zu Dresden vermacht: es waren ihre Selbstbiographie, bis zu ihrer Heirat mit Georg von der Recke fortgeführt, und anschließend daran die Geschichte ihrer unglücklichen Ehe in Briefen. Beide Manuskripte sind erst im Jahre 1900 durch Paul Rachel zum Druck befördert worden, und sie bilden, um einiges Unwesentliche gekürzt, und teilweise mit ergänzenden Anmerkungen aus den 1902 von Rachel herausgegebenen »Tagebüchern und Briefen« Elisas versehen, den Inhalt dieses Bandes. Den Titel »Herzensgeschichten« habe ich gewählt, weil er das Buch am treffendsten kennzeichnet: von ihren frühesten Mädchenjahren an erblicken wir Elisa ständig mit einem von Liebesdingen verschiedenster Art stark, oft wild bewegten Herzen. Diese merkwürdige Frau, die mit siebzehn Jahren, nachdem sie zahlreiche Bewerber abgewiesen, einen zu ihr durchaus nicht passenden Mann heiratete, nach fünf Jahren von ihm aus seinem Schloß verjagt, und weitere fünf Jahre danach von ihm geschieden wurde, hat von ihrem zwölften bis zu ihrem fünfzigsten Jahre nicht aufgehört, die Herzen der Männer zu entzünden. Und obwohl sie selber in höherem Maße als andere die Sehnsucht nach Liebe empfand [Im Jahre 1810 schrieb sie in ihr Tagebuch: »Von meiner Kindheit an war es mir das höchste Bedürfnis, mit Innigkeit zu lieben und geliebt zu werden.«] und oft leidenschaftlich liebte, hat ein fast tragisch anmutendes Geschick ihr keinen zweiten Lebensgefährten gegönnt. Sie war kaum zwölf Jahre alt, als sie die ritterlich-knabenhafte Liebeserklärung eines vierzehnjährigen Barons von Heyking anhörte und diesem ihre Gegenliebe zu verbergen suchte. Der Vater Heyking gab in Elisas Gegenwart dem Wunsche Ausdruck, seinen Sohn einst mit ihr verbunden zu sehen. Zur selben Zeit verliebte sich der über siebenzigjährige, verheiratete Starost Igelströhm in das Mädchen, und ein Herr von Behr hielt, hingerissen von ihrem Liebreiz, um ihre Hand an. Und nun mehren sich die Verehrer; Männer mit Schönheit des Körpers, andere mit Vorzügen des Geistes bestürmen das unsichere Herz des Mädchens, das, von seinen Sinnen und seinem seelischen Verlangen gleich triebhaft und dunkel bedrängt, unruhig pocht. Elisa ist noch nicht vierzehnjährig, als Starost Igelströhm, jetzt sechsundsiebenzig Jahre alt, nach dem Tode seiner dreiundzwanzigjährigen Frau, in aller Form um ihre Hand anhält. Elisa gibt ihr Jawort, ihr Vater ist einverstanden, doch die Stiefmutter will die Heirat nicht, sie unterbleibt. Neue Freier treten auf. Die auf die Schönheit ihres Stiefkindes stolze Frau von Medem sucht das Herz des Mädchens zu lenken – sie soll einen reichen und bedeutenden Mann nehmen und eine »galante Weltdame« werden; Frau von Medem sammelt Anträge für das Mädchen, um eine große Auswahl zu haben. Und aus all den ständigen Herzensnöten sehnt Elisa sich immer wieder nach ihrem geliebten Igelströhm. Zuletzt nimmt sie, siebzehnjährig, und »gelenkt« von ihrer Stiefmutter, den Herrn von der Recke und wird tief unglücklich. Noch ehe sie von ihm wegen Verweigerung der ehelichen Gemeinschaft verstoßen ist, und gleich danach um so mehr, wird ihr Herz von neuen und den so zahlreichen alten Verehrern abermals in stürmische Unruhe versetzt, und Herr von der Recke bemüht sich zweimal vergeblich, sie als seine Frau wieder auf sein Wasserschloß zurückzuführen. Schließlich schlägt sie den Antrag des heftig geliebten Herrn von Holtei aus und bringt damit ein nutzloses Freundschaftsopfer. Diese entsagende Liebe erfüllt ihr Herz fortan so völlig – Holtei nahm sich eine andere Frau – daß Elisa, die damals vierundzwanzig Jahre zählte, und noch oft geliebt hat und zum Weibe begehrt wurde, doch keinem Bewerber ihr Jawort geben konnte: Holteis Bild drängte sich in ihrer Seele stets wieder zwischen sie und den anderen.
Um alle diese Herzenserlebnisse dreht sich der Inhalt des Buches, und man darf wohl sagen: es gibt kein deutsches Werk, das mit so eindringlicher Gewalt ohne jede Künstelei zur Seele spricht und so tiefe Einblicke in das innerste Wesen einer edlen Frau und Edelfrau tun laßt, wie dieses. Eine wahrhaft vornehme, bezaubernde Persönlichkeit, in der Seelengröße und Güte sich mit einer erstaunlichen sittlichen Kraft der Entsagung und Reinheit paaren, tritt uns aus diesen Blättern entgegen. Elisa von der Recke gehört mit ihren Freunden und Freundinnen, die alle ein Band innigster, aber oft überschwänglicher Seelengemeinschaft verband, zu den »Empfindsamen«. Die »süßen« Gefühle der gegenseitigen Zuneigung, die Schwärmerei bei Mondschein und dem Schluchzen der Nachtigallen, die häufige Todessehnsucht, um mit allen Geliebten für ewig vereint zu sein, Elisas werthermäßiges Liebesverhältnis zu dem Dichter Hartmann, dessen Tränen sie verstohlen als junge Frau von ihrer Hand küßt, während er die Spitzen ihres aufgelösten Haares mit den Lippen berührt, – das alles ist typisch für die Seelenrichtung einer Zeit, wo Goethe seinen Werther erlebte. Auch die dreieckigen Verhältnisse, die wir in den Briefen kennen lernen, mit ihren aufgeregt und unklar zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Seele und Sinnen hin und her wogenden Gefühlen, kennzeichnen die Zeit der Empfindsamkeit. In dieser Hinsicht gibt das Buch dieselben wertvollen Aufschlüsse, wie die Lebensgeschichte des Mönches Franz Xaver Bronner, einem der vorzüglichsten Werke der Memoirenbibliothek, ja der deutschen selbstbiographischen Literatur überhaupt.
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