Der Lausbub und die Kuchen. – Beim Ochsenwirt in Freising. – Gymnasiazeiten. – Das erste Malheur. – Die Attacke auf den Glaspalast im Seminar. – Bei Glockengießermeisters. – Erste Liebe und zweites Malheur. – Die Familiengeduld reißt. Das Uebereinstimmen der beteiligten Kreise war erstaunlich: »Oin Lausbube!« sagten die Professoren in München. »A solchener Lausbub …« erklärte der Pedell. »Dieser lie-ii-derliche Bursche!« stöhnte der Ordinarius dreimal täglich. »Ja – der Lausbub!« nickten die Tanten und die Verwandten. »Ein furchtbarer Strick bist du gewesen!« pflegt meine Mutter zu sagen. »Gräßliche Geschichten hast du gemacht!« Dann lacht sie und fragt regelmäßig, ob ich mich denn auch an Frau Schrettle erinnere und an die Kuchen … Ich war zwölf Jahre alt. Quartaner. Lateinschüler der Klasse 3a des Königlich Bayrischen Maxgymnasiums in München. Meine Würde als Lateinschüler schützte mich aber keineswegs davor, gelegentlich zu der Frau Kolonialwarenhändlerin Schrettle an der Ecke geschickt zu werden, um irgend etwas für den Haushalt zu holen. »An Empföhlung an d‘ Frau Mama!« sagte jedesmal die dicke Frau Schrettle, während ich ebenso regelmäßig vornehm nickte und dabei kein Auge von den Kuchen auf dem Ladentisch verwandte. Von Frau Schrettles berühmten Kuchen. Sie waren aus Blätterteig; sie waren mit Himbeeren belegt; sie waren Wunderwerke – und sie führten den Lateinschüler so lange in Versuchung, bis er eines Nachmittags vor Klassenanfang Hals über Kopf in den Laden stürzte: »Einen Himbeerkuchen soll ich holen!« »Bitt‘ sehr! A schöne Empfehlung!« dienerte Frau Schrettle und schrieb der Mama einen Himbeerkuchen an. Der Raub war gelungen, und der Lausbub wiederholte die Operation einen ganzen Monat lang fast jeden Tag! Verzehrt wurden die Kuchen auf dem Schulweg, in ehrlicher Teilung mit den Spezerln und Freunderln aus der Quarta. Bis an einem Novembersonntag die Katastrophe kam – Frau Schrettle mit ihrer Rechnung. Mir fiel das Herz in die Hosen, als meine Mutter fragend sagte: »Himbeerkuchen?« »Guat sans, nöt?« meinte Frau Schrettle stolz. »Aber wir haben ja gar kleine Himbeerkuchen gehabt!« rief meine Mutter entrüstet. Nun war die Reihe zum Erschrecken an Frau Schrettle.
»Der Herr Sohn hat’s g’holt!« stotterte sie. »Jeden Tag!« Kladderadatsch. Frau Schrettle erhielt ihr Geld und ich vorläufig eine Ohrfeige mit der Aussicht auf mehr, wenn der Vater nach Hause kam. Meine Mutter weinte und ich weinte und meine Mutter sagte, es sei ja fürchterlich, und ich fand, es sei noch viel fürchterlicher! Zehn Minuten später schlich ich mich heulend aus dem Haus und rannte in dichtem Schneegestöber durch die Straßen, durch den englischen Garten, der Isar zu. Bei der Bogenhausener Brücke begann die einsame Landstraße. Es war bitter kalt. Die Schneeflocken peitschten mir ins Gesicht, und ich kleiner Kerl mußte mich tüchtig gegen den scharfen Wind anstemmen. »Ich geh‘ nicht nach Hause!« murmelte ich immer wieder vor mich hin. »Nach Hause geh‘ ich ganz gewiß nicht …« Spät abends stolperte ein halb verhungerter und halb erfrorener Lateinschüler in die Gaststube des Roten Ochsen im Städtchen Freising. »Da schaugt’s her,« rief der Ochsenwirt. »Ja was wär‘ denn dös! Was willst denn du nacha im Wirtshaus?« »Was zum essen möcht‘ i‘.« »Wo kimmst denn her?« »Von München. A – an Ausflug hab‘ ich g’macht,« log ich, beinahe weinend. »Woas?« schrie der Wirt. »Den Sauweg von Minken bist herg’loffen in dem Sauwetter? Lüag du und der Teifi. Dös wär‘ a sauberer Ausflug. Wia heißt‘ denn und wo wohnst‘?« Wie ein Häuflein Elend stand ich schlotternd da, gab dem Riesen vor mir Auskunft und sah mit Zittern und Bangen, wie er zu dem großen Gasttisch in der Ecke schritt, wie er mit den Gästen zischelte, wie er mit Frau Wirtin tuschelte, wie der Hausknecht gerufen und mit einem Zettel fortgeschickt wurde. »Hock di‘ hin an Tisch.« brummte der Wirt. »D‘ Frau bringt dir was zum essen.« Ich entsinne mich noch dunkel, daß ich gierig alles verschlang, was mir vorgesetzt wurde, daß Frau Wirtin mich in die Wohnstube führte und auf ein Sofa bettete. Und daß eben auf einmal mein Vater da war und ich mich furchtbar vor ihm schämte und eine fürchterliche Angst vor ihm hatte. Aber was der Ochsenwirt von Freising zu meinem Vater beim Abschied sagte, das weiß ich noch ganz genau: »Is nix zu danken, Herr,« sagte er. »Den 12 Uhr Zug nach Minken werd’n S‘ grad no‘ derwischen. Ja, dö Buam! Früchteln san‘ halt Früchteln.
Is eh nix dabei. Aber an Hintern tät i‘ eahm halt do‘ vollhau’n!« Was am nächsten Tag ausgiebigst geschah! * Der Lausbub wurde älter, stieg mit Ach und Krach von Klasse zu Klasse, und blieb ein Lausbub … »Ein leichtsinniger Schüler,« hieß es in den Zeugnissen. »Seine Leistungen stehen in bedauerlichem Mißverhältnis zu seinen Fähigkeiten; sein Betragen ist nichts weniger als zufriedenstellend«. Ich muß bei meinen Lehrern in einem erbärmlich schlechten Ruf gestanden haben. Die Abneigung beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Heute noch ist mir das Gedenken an meine Gymnasialzeit das Gedenken an eine harte Zuchtanstalt, an gedankenloses Eintrichtern von Lehrbüchern, an schablonenmäßiges Auswendiglernen, an mangelnde Liebe und mangelndes Verständnis, an bakelschwingende Schulmeisterei, an groben Unteroffizierston, an fast komisches Nichtverstehen. Ich erinnere mich an ein beständig schnupfendes Ungeheuer von einem Professor mit rotem Taschentuch und fettigem Rockkragen, der über ein ut mit dem Indikativ in viertelstündige Raserei zu verfallen pflegte; ich erinnere mich an donnernde Philippiken, wie unsittlich es sei, daß ein so fauler Bursche wie ich sich ohne Arbeit nur durch sein bißchen Talent das Aufsteigen in die nächsthöhere Klasse erschwindele; ich erinnere mich an einen Ordinarius der Untersekunda, der mich mit dem geschmackvollen und gut deutschen Ausdruck »Frechjö« belegte, weil ich, nachdem er mir die Erlaubnis, das Schulzimmer zu verlassen, verweigert hatte, ihn aus einem höchst natürlichen und dringenden Grund ein zweitesmal darum bat. Aber ich kann mich nicht entsinnen, daß jemals mich ein Lehrer beiseite nahm und in Güte mit mir sprach, um herauszubekommen, was in meinem Hirn vorging: weshalb der dumme Junge so dumme Streiche machte – und ein Lausbub war. * »Düsser Bursche!« sagte der Herr Rektor wutschnaubend, als ich ihm vorgeführt wurde. »Düsser unver–bösserliche Lümmel! Das Maß üst voll. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er brücht!« Der Schulgewaltige hatte recht. Ich war ein infamer Bengel. Von meiner Unverbesserlichkeit zeugte eine lange Reihe von Karzerstrafen, wegen Rauchens auf der Straße, wegen Nichtablieferung von Schularbeiten, wegen Betroffenwerden in dem Hinterzimmer einer Gastwirtschaft. Außerdem hatte mich das Lehrerkollegium schon längst im Verdacht, der berüchtigten Schülerverbindung des Maxgymnasiums anzugehören, die in versteckten Vorstadtkneipen studentische Gebräuche nachäffte. Trotz aller Anstrengungen des Pedells gelang es nie, die Sünder in flagranti zu erwischen. Stellten wir doch stets den jüngsten »Fuchs« als Wache auf die Straße, und wenn der Pedell oder ein Professor sich blicken ließen, wurden wir prompt gewarnt, kletterten aus Hinterfenstern, flüchteten über Höfe, stiegen über Mauern. Aber man wußte im Maxgymnasium doch so von ungefähr, welche Schüler die Schuldigen waren, und sah den verdächtigen Subjekten scharf auf die Finger. Ich jedenfalls galt als besonders verdächtig! Nun war das Krüglein meiner Sünden übergelaufen: Ich schwänzte drei Tage die Schule! Fürst Bismarck war nach München gekommen und in Lenbachs Villa abgestiegen. Dorthin lief ich schleunigst nach dem Mittagessen, ließ Nachmittagsunterricht eben Nachmittagsunterricht sein und stand bis zum späten Abend auf der Straße, aus Leibeskräften hurraschreiend. Weil die Freiheit gar so schön war und der junge Sommer gar so sonnig, ging ich am nächsten Tag auch nicht ins Gymnasium, und am dritten Tag erst recht nicht, sondern trieb mich in den Isarauen herum und schwelgte in unzähligen Zigaretten und machte erschrecklich schlechte Gedichte. »Ein Schüler der 6. Klasse schwänzt! Das üst noch nücht vorgekommen!« donnerte der Rektor. »Was haben Sü zu sagen?« Stotternd versuchte ich zu erklären, daß ich es gar nicht so böse gemeint hätte, daß – »Oine gemeine Lüge! Gekneipt haben Sü!« »Das ist nicht wahr. Das verbitt‘ ich mir,« brauste ich auf. »Halten Sü das lose Maul! Sü sind ein Verlorener.
Sü sind eine Gefahr für die tugendhaften Schüler. Der Lehrerrat wird das weitere über Sü beschließen.« Binnen vierundzwanzig Stunden wurde ich aus dem Tempel des Humanismus hinausgeworfen, dimittiert, und damit nicht nur vom Maxgymnasium, sondern auch von jeder anderen höheren Lehranstalt in München ausgeschlossen. Meine Reue war tief und ehrlich.
.