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Das Bilderbuch meiner Jugend – Hermann Sudermann

Der Vorderwald und der Hinterwald und dazwischen ein Gutshof, tief eingebettet in grünes Geheimnis. Auf diesem Gutshof kam ich zur Welt. Doch nicht etwa im Herrenhause. So hoch verstiegen sich meines Lebens Sterne nicht. Gleich links am Torweg lag eine Brauerei – kein Fabrikpalast mit Mälzereitürmen und Dampfmaschinenbetrieb, mit kupferner Phantastik und eisstarrenden Wölbungen – o nein, ein dürftiger Feldsteinbau, durch nichts für seinen Beruf gebildet als vielleicht eine hölzerne Lukenreihe, durch die an manchen Tagen, in Dampfwolken gekleidet, ein Würzgeruch in die Weite zog. Nach vorne hin angebaut waren zwei Stuben. Die Vorder- und die Hinterstube. Und in ebendieser Hinterstube kam ich zur Welt. In ihr verdröselte ich die Tage des ersten Traumes. Und dann waren vor der Tür drei Birkenbäume. Es mögen ihrer auch vier gewesen sein oder fünf. Ich darf ruhig schwindeln, denn die Bäume sind lange weg, und niemand kann mich Lügen strafen. Meine Mutter natürlich ausgenommen. Aber die ist siebenundneunzig und erinnert sich vielleicht der Zahl auch nicht mehr. Zwischen diesen Bäumen gab es Rasenbänke. Warum, weiß ich nicht. Zum Sitzen dienten sie keineswegs, denn da waren auch noch, von meiner Mutter Hand gezimmert, Holzbänke und Tische davor, um einkehrenden Ausflüglern, die sich eines Labetrunkes bedürftig fühlten, willkommenen Ruheplatz zu bieten. Sie kamen zwar nie, diese Ausflügler, aber sie hätten doch kommen können, und eine Konzession für das Gastwirtschaftsgewerbe war auch nicht da, aber »der Mensch hofft«, sagte meine Mutter, und das sagt sie auch heute noch, während die Franzosen als Herren des Memellandes vor ihren Fenstern spazierengehen. Zwischen jenen Rasenbänken lag mein erstes Reich. Nach vorne hin begrenzt durch den großen Weg, den ich beileibe nicht betreten durfte, denn auf ihm fuhren die bösen Leiterwagen, von deren Rädern man zermalmt werden konnte, ehe man es ahnte. Zur linken Seite begrenzt durch ein tiefliegendes Bachgerinsel, das natürlich nicht minder gefährlich war, zumal ein krauses Gewirr verwilderter Himbeerbüsche es tückisch verbarg. Und jenseits des Baches begann der herrschaftliche Garten, die erste Sehnsucht, das früheste Wunder meines Lebens. Denn keine Herrlichkeit der Erde ließ sich denken, die dort nicht zu finden war. Nicht bloß die Äpfel, auch die Äpfel-kuchen wuchsen darin wild, und was man an Blumen mit nach Hause tragen konnte, wenn man von Mama zur nachbarlichen Kaffeevisite mitgenommen war, sah man durch Monate nicht in der blauen Vase auf dem Sofatische prunken. – Da war auch die Geißblattlaube und die Sonnenuhr, von der ich in »Frau Sorge« erzählt habe.


Und eine Balkontreppe war da. Von deren Höhe schaute man hernieder wie der liebe Gott aus dem Abendrot. Hatte beim Heimweg die Gittertür sich hinter uns zugetan, dann war der Garten für lange Zeiten ein versunkener Garten, in dessen unbetretbaren Gebieten nur die Träume sich heimisch fühlen durften. Er wurde kahl und schneite ein und taute auf und grünte wieder, und immer blieb er das gleiche Zauberland. Inzwischen nahm die Eroberung der übrigen Erde ihren Anfang. Sie beschränkte sich fürs erste auf die Gegenden, die jenseits des Torwegs bis zum Waldrande endlos sich erstreckten. Da gab es Entdeckungen und Erlebnisse in immer sich erneuernder Fülle, haushohe Pilze mit flammenroten Dächern, Königskerzen und Schierlingsstauden, die bis zum Himmel wuchsen, zwei Ameisenhaufen, so groß wie der Eiskeller, der im Walddunkel verborgen schlief und der nur an der Hand des Vaters besucht werden durfte. Diese Hand, knorrig, klammernd, von der Arbeit zu Eisen gehärtet, diese allmächtige Führerin, vor der die Welt sich neigte, vor der die Nähe schwand und die Ferne sich entschleierte, sie ist das erste und älteste, was ich von meinem Vater weiß. Anfangs kam sie ganz von oben herab, und wenn man sie gefaßt hielt, mußte man den Arm nicht unbeträchtlich in die Höhe recken. Allgemach aber senkte sie sich tiefer, das Armgelenk tat nicht mehr weh, und man vermochte auszuschreiten, ohne daß man sich gezerrt und gezogen fühlte. Zu dieser Hand gehörte ein Mann, der unermeßlich groß und schon immer sehr alt war. Und zu dem Mann gehörte ein Rasiermesser, eine blaue Schürze und ein Thermometer. Die blaue Schürze durfte man ihm bringen, wenn er zur Arbeit ging. Das Thermometer aber zu berühren, war verboten, denn wenn man es fallen ließ und es in Stücke brach, dann konnte nicht mehr gebraut werden, und dann mußten wir alle verhungern. Das Rasiermesser gar – an dem schnitt man sich zu Tode, so gräßlich scharf war es. Und darum lag es auch meistens unter Verschluß. Mein Vater war wohl schon damals der stille Mann, als der er durch meine Jugend geht, denn er stammte von stillen Leuten, in deren Herzen und Häusern das Lachen verpönt war. Aber der Gottesanteil an Freude, der jedem Menschenkinde beschert ist, läßt sich ja nicht zum Schweigen bringen, zumal, wenn das Glück selber dazu die Musik macht. Und so mag wohl in jenen Jahren auch durch mein Elternhaus manch Lachen erklungen sein, und manch zweistimmiger Abendgesang mag mich und die Brüder in Schlaf gewiegt haben. – Zwei Brüder kamen nach mir in Abständen von anderthalb Jahren und dann – sieben Jahre nach meiner Geburt – ein dritter, alle drei zum Leiden, zwei zu frühem Tode bestimmt. Aus jener Dämmerzeit weiß ich nichts mehr von ihnen. Mir ist im Gegenteil, als ob ich – auch in späteren Jahren – immer allein gewesen sei. Nur daß der zweite an Krämpfen litt und daß meine Mutter oft auf Knien für ihn betete, wenn sein Körperchen blau und steif vor ihr auf dem Boden lag, ist mir dunkel in der Erinnerung. Und daß ich ihn eines Tages mit besonderer Inbrunst liebte, weil er ein schön bunt kariertes Röckchen bekommen hatte, mag als Zeugnis für die angeborene Äußerlichkeit meines Wesens unverschwiegen bleiben. Meine Mutter war eine geschäftige kleine Frau, vom Morgen bis in die Nacht hinein auf die Wohlfahrt der Ihrigen und den Glanz des Hauses bedacht.

Sie wusch und schneiderte, sie polierte und zimmerte, sie putzte und plättete immerzu. Das Lichtchen an ihrem Bette brannte bis zur Morgenhelle, und wenn mein Vater nachts aufstehen mußte, weil Maische abzulassen oder nach der Gärung zu sehen war, dann war sie es, die ihn wach rief. Meine früheste Erinnerung an sie: Abenddämmerung – ich zwischen den Gittern meines Kinderbettes – sie singend über mich geneigt. Und plötzlich kommt eine Angst über mich, eine wahnsinnige, atemraubende Angst, sie könne eines Tages nicht mehr da sein, und ich müsse allein in die Welt, die große Welt jenseits des Waldes, unbehütet, unbetreut, den bösen Menschen zum Opfer.

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