Wie der Name einer Verschollenen, die vor endlos langer Zeit eine gefahrvolle Reise in ein fernes Land antrat und nicht wieder heimgekehrt ist, klingt dem Ohre der jungen Generation heut‘ der Name Bettina von Arnim. Wer kennt sie noch, wer liest noch ihre Schriften? Kaum und nur mit Widerwillen, blos wie eine unangenehme Nothwendigkeit, der, welcher sich dem Fachstudium der Literaturgeschichte widmet. Und das Interesse für die Frau ist ebenso erloschen wie das für die Dichterin. Wer möchte glauben, daß erst 26 Jahre sich der Grabhügel über ihrer Asche wölbt? Freilich, welch‘ ein ereignißreiches, Welt und Menschen gründlich veränderndes Vierteljahrhundert ist das verflossene, welche Revolutionen hat es auf allen Gebieten des Lebens hervorgerufen! Andere Ansprüche stellt die Gesellschaft von heut‘ an die, welche hervorragende Stellungen in ihr einnehmen wollen, als jene der Vergangenheit, nüchtern und praktisch ist sie geworden, und auch vom Dichter verlangt sie mehr als farbiger Bilder glänzende Pracht, dämmerungsvolles Ahnen übersinnlicher Schönheit, selbstzufriedenes Schwelgen in holden Wallungen und Herbeicitiren frommer oder böser Geister der außerirdischen Welt. Sie will in Gedanken und Form gleichvollendete Darstellungen der Conflikte des modernen Lebens, Wahrheit geht ihr über Schönheit, Klarheit über ahnungsvolle Vieldeutigkeit, Schärfe über angenehme Weichheit. Die Muse der vormärzlichen Literatur war ein blondes, blauäugiges Kind, sinnig, hold und träumerisch, mit runden, zierlichen aber wenig charakteristischen Formen, die der heutigen hat graue, stechende Augen und ein scharfgeschnittenes Profil. Ist es darum berechtigt in einer für den Kreis der Allgemeinheit berechneten Schrift eine Gestalt wieder aufleben zu lassen, welche ihrer ganzen Art nach zu der längst über Bord geworfenen Klasse gehört? Fast möchte ein solches Unternehmen überflüssig und nutzlos scheinen. Und doch, wenn wir bedenken, was Bettina den größten Männern ihrer Zeit gewesen ist, wie einzig und eigenartig ihre persönliche Erscheinung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens dasteht, so möchte ein solcher Versuch zum mindesten nicht von vornherein abzuweisen sein. Deutsche Romantik! Wer unter uns empfindet bei diesen Worten noch etwas Anderes als unklare Vorstellungen davon, daß vor wenigen Menschenaltern das Geistesleben unseres ganzen großen Vaterlandes selbst sich in unklaren Vorstellungen bewegt habe? Jenes Wort scheint nicht mehr als träumerische, unmännliche Gefühlsseligkeit, den Mangel zielbewußten, ernsten Strebens zu bedeuten. Mondscheinschwärmerei, Geisterseherei, das Suchen nach der blauen Blume und nach der längst entschwundenen Märchenwelt! Von der Seligkeit, die unsere Vorfahren bei alldem empfunden, von den tausend Gedanken, die sie hineingeheimnißt, begreifen wir nichts mehr. Und doch drangen die Strahlen dieser Poesie bis in die fremden Länder, und die edelsten Männer und Frauen Frankreichs, Italiens, Englands konnten sich ihren magnetischen Wirkungen nicht entziehen. Künstler, Philosophen, Staatsmänner, Könige schworen zur Fahne der Romantik, und blieben ihr treu, bis sie mit ihr und durch sie scheiterten. In den Hörsaal wie in’s Atelier, in den Salon wie in den Staatsrath drang sie ein und wußte sich immerhin geraume Zeit siegreich zu behaupten. Ihr eigentlichstes, für lange Zeit unbestrittenes Reich blieb freilich die Dichtkunst. Aber die letztere war auch damals nicht sowohl trotz als gerade wegen ihrer Phantastereien das, was die Poesie immerdar sein soll, ein getreues Abbild der Zeitverhältnisse, freilich nur ein indirektes. Denn indem die Dichtkunst sich in ferne Märchenregionen flüchtete, erkannte sie nur zu deutlich den Jammer ihrer Mitzeit und aller Verhältnisse, der politischen wie der sozialen, der geistigen wie der materiellen, das gänzlich Unpoetische, ja Poesiewidrige derselben an. So war die Romantik und ihre Ausbreitung in dieser Hinsicht eine geistige Bankerotterklärung ihrer Zeit, ein Pessimismus in anderer Form, so gut wie jeder falsche über das Wirkliche und Gegenwärtige hinausgehende Idealismus eigentlich ein Pessimismus ist. Damit ist durchaus nicht der Stab über das historische Drama, das historische Gemälde u.s.w. gebrochen, aber diese haben nur Berechtigung, wenn sie nicht vorzugsweise um ihres historischen, sondern um ihres allgemein menschlichen Gehalts willen interessiren. Eine Geistesrichtung, die nicht im vollen Leben ihrer Zeit sondern im Widerspruch zu derselben steht, kann wohl eine Zeit lang die Welt täuschen und blenden, aber auf die Dauer dieselbe nicht an sich ketten, der göttliche Geist, der die Entwicklung der Menschheit regelt, schreitet immer fort, immer nur vorwärts, und der Geist einer kleinen Anzahl von Menschen kann ihm nicht lange widerstreben: jener reißt ihn mit sich oder entwurzelt und zertrümmert ihn, wie der Sturm die Eiche, die sich nicht vor ihm beugen will. So sind sie denn alle, die Romantiker, die großen, vielbewunderten Dichter ihrer Zeit — unter denen leider viele wirklich bedeutende, wahrhaft poetische Genies waren — die E. T. A.
Hoffmann, Tieck, Brentano, Müllner mit Recht vergessen, weil sie dem vorwärtsschreitenden Weltgeist sich entgegen zu stellen suchten. „Versunken und vergessen“, der Fluch kann sich auch wohl gegen den Sänger kehren, wenn er mit dem ihm verliehenen Pfunde nicht richtig zu wuchern weiß. Aber der Weltgeist, oder sagen wir die Natur zeigt sich nicht blos unbarmherzig, wie Darwin gelehrt, in der genetischen Entwicklung der Menschheit, indem sie rücksichtslos ohne Unterschied vernichtet, was sich der Fortentwicklung nicht vollkommen anpassen will oder kann, sondern auch in der geistigen. Auch hier rottet der Weltgeist die Gattungen wie die Individuen aus, welche ihm zu folgen nicht stark genug sind, selbst wenn sie den guten Willen haben und den Ansatz dazu unternehmen. So läßt er auch eine Bettina allmählich zum literarischen Petrefact werden. Denn diese modernste der Romantiker erkannte in den letzten Decennien ihres Lebens wohl, welchem Irrlicht ihre Schule bis dahin gefolgt war und bemühte sich wenigstens ihrerseits noch zu rechter Zeit aus dem Morast auf die rechte Straße zu gelangen und mit ihrem Königsbuch sich den Dichtern der neuen Zeit, den Laube, Gutzkow u.s.w. anzuschließen, welche auf jener Straße dahinwallten, allein sie war damals schon alt und ihre Kräfte reichten nicht mehr aus sie bis zum Ziele zu bringen, so daß sie unterwegs, den rechten Weg im Angesicht, verschied. Uns aber bleibt sie um dieser von Selbst- und Welterkenntniß zeugenden Wandlung, um ihrer bedeutenden und starken Begabung und ihres eisernen Willens wegen interessant und anziehend. Aber nicht ihre literarische und literargeschichtliche Bedeutung allein ist’s, was die Herausgabe einer Schrift über sie rechtfertigt. Was uns einen Menschen nahe bringt, ist nicht das, was er den Göttern und Musen, sondern was er sich und seinen Nebenmenschen gewesen. Von den letzteren geliebt worden zu sein, gilt mehr als die Gunst der ersteren genossen zu haben, und wir wollen lieber die Lippen Desjenigen küssen, der Tausend unserer Brüder vor uns geküßt, als deß, dem sie allein der Genius berührt. So wird uns rein menschlich Bettinen’s zarte, vielgeliebte Sylphengestalt näher stehen, als der als Poet größere, aber vergrämte, unmittheilsame Grillparzer, und so ist uns Byron immer von neuem ein Gegenstand, mit dem wir uns gern beschäftigen, weil er einen wunderbaren Don Juan geschrieben und ein noch wunderbarerer gewesen. Was aber war Byron! Wer war größer in beiden Rücksichten als Goethe? Kein geistreicher Mann, keine schöne und anziehende Frau zu seiner Zeit und in seiner Nähe, die nicht so gern an seinen Lippen wie an seinen Werken gehangen! Wer nur die Mittel irgendwie aufzubringen imstande war, kaufte seine Werke und reiste nach Weimar, um nur ein Wort mit ihm zu wechseln, nur einmal ihm gegenüberzustehen! Der Zauber seiner Persönlichkeit war ein magnetischer. Schiller’s und Lessing’s Werke werden so lange leben als die Goethe’s, ewig, die Persönlichkeiten jener beiden aber werden schon den nächsten Generationen nicht mehr so ganz unaustilgbar vor Augen haften und allgemach in der Vorstellung der großen Welt verblassen, während auch die Persönlichkeit Goethe’s selbst dem Geringsten bis in ferne Aeonen klar vor Augen stehen wird. Und so lange man den Namen des Meisters nennen und derer, die er durch seine persönliche Neigung beglückte, gedenken wird, kann auch Bettina nicht vergessen werden. Denn wir wissen nunmehr ganz unanzweifelbar aus Löpers Veröffentlichungen, daß sie dem Dichterfürsten wirklich nahegestanden hat und ihm unendlich theuer war. Lange, ernsthafte Forschungen unserer Gelehrten hat es freilich genug gekostet dies festzustellen und ihr Andenken vor den Beschimpfungen so mancher Uebelunterrichter zu rechtfertigen, die in ihr nichts als eine eitle, leichtfertige Fälscherin sehen wollten. Bettina hatte ein Recht, von Goethe’s Neigung zu ihr der Welt zu erzählen, und wen Goethe’s Lippen einmal berührt, der ist der Unsterblichkeit im deutschen Vaterlande sicher.
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