Mein Vater hatte in seinem Pulte eine Bibel, worin er den Tag und die Stunde geschrieben, wann ihm ein Söhnlein öder Töchterlein geboren war. Darin stand: »1751 den 15. Februar zwischen 4 und 5 Uhr morgens wurde mir ein Knäblein geboren, den nannte ich Johann Heinrich Wilhelm.« Das bin ich! Die fünfte Stunde morgens ist eine schöne Stunde, aus dem dunkeln Schlaf ins lebendige Licht zu treten. Es sind nun sechzig Jahre, daß ich auf der Welt bin. Dreißig Jahre lang bin ich immer mit und vor der Sonne aufgestanden, habe die Hälfte der Nächte geträumt, habe also doppelt soviel gelebt als einer, der nicht früh aufsteht und nicht lebhaft träumt. Meiner Existenz ward ich zuerst inne, als ich auf die Nase gefallen war. Meine Mutter hatte mich, da ich noch nicht gehen konnte, einem Burschen zur Wartung übergeben. Der stellte mich vor unserer Tür an eine Ziege, die Apfelschalen fraß. Solange das Tier still stand, konnte ich mich daran halten; aber während ich mich über dasselbe freute, sprach er mit jemand anderem und ließ mich allein. Als nun die Apfelschalen verzehrt waren, ging die Ziege fort, und da ich noch nicht allein stehen konnte, fiel ich auf die Nase. Über mein Jammergeschrei kam meine Mutter herzugelaufen und schhalt den Jungen, daß er mich so habe fallen lassen. Da erfuhr ich, daß ich etwas wert sei, indem so viele um mich bemüht waren und mir das Blut abtrockneten, mich beklagten und jenen Menschen schalten. Nachdem die Erkenntnis bei mir auf eine so empfindliche Art durch Schmerz geweckt und ich nun meiner bewußt war, wurden mir auch nach und nach die Dinge und Menschen bemerklich, die mich umgaben. So lernte ich durch sanfteren Händedruck das Wohlwollen, die Liebe, meine Mutter und meinen Vater kennen; ich merkte, daß ich von ihr Gutes und Pflege erhielt, Schutz in ihrer Nähe und Warnung in der Ferne hatte. So hing ich an ihr wie sie an mir. Kühn auf ihren Schutz, wurde ich freier und entfernte mich von ihrem Schoße; denn ihre Augen hatten acht, und ihre Arme und Hände schützten mich. Aus ihren Händen lief ich in des Vaters Arme, der mich oft kräftig in die Höhe hob und mich Mond und Sonne sehen ließ. Und es wurde heller um mich, und ich sah immer deutlicher ein, wie sich dies und das von jenem unterschiede. Von meiner Mutter lernte ich sprechen, von dem Vater aber die Sachen mit dem rechten Namen nennen. Der enge Kreis von Kenntnis wurde erweitert. Fern von unserer Wohnung lernte ich das Haus meiner Großeltern kennen, den Großvater und die Großmut ter mit ihren Kindern und Kindeskindern, welche bei ihnen wohnten und mit denen wir oft zusammenkamen. Dort erhielten wir Kinder die erste Aufmunterung zu nützlicher Beschäftigung. – Doch ehe ich weiter von mir etwas sage, muß ich von meinen Großeltern, Vaters Brüdern und Schwestern erzählen. Wem daran gelegen ist, den einzelnen Menschen genau zu erforschen, dem wird dies leichter, wenn er die ganze Familie desselben kennt; denn die hat ähnliches, und man sieht den Einfluß, der auf ihn wirkt, und wie er jedes aufnimmt und betrachtet.
Man findet auch wohl Menschen in weiter Ferne, die man vorher nie gesehen hat, bei denen man sich aber auf den ersten Blick für überzeugt hält, daß sie zu einer Familie gehören, die man kannte. Auch verdienen es meine Großeltern, gekannt zu sein, und ich rechne sie zu den Edelsten, welche ich auf meinem Erdenwallen gefunden habe. Der Mensch, welcher gewissenhaft seinen Beruf erfüllt, daneben für sich und andere Nützliches wirkt, durch sein Beispiel dazu beiträgt, Menschen zu veredeln, und zum Nötigen auch das Schöne schafft und das Gute, der ist der Ehre seiner Mitbrüder wert, und sein Name und sein Wirken verdient bei der Nachkommenschaft erhalten zu werden. Das Glück und das Ungefähr führt oft Menschen von großen Geisteskräften auf den Weg, glänzende Taten auszuführen; aber bei den Geringen, die im stillen ohne Lärmen Gutes wirken, da sind die wahren Tugenden. Johann Heinrich Tischbein, so hieß mein Großvater, von dem alle Künstler dieses Namens abstammen. Wie man mir erzählte, war er aus Marburg nach Haina gekommen, wo er die Hospitalbäckerei übernahm. Meine Großmutter war aus Bingen am Rhein, Tochter eines Schlossers Hinsing, der auch künstliche Uhren machte und selbst an einem Weltsystem arbeiten half. Sie kam mit der Obervorsteherin des Hospitals als Gesellschafterin nach Haina, und als sie einfuhren, waren viele Menschen versammelt, um ihre Oberin zu sehen. Auf der Brücke nun sagte die Obervorsteherin scherzend: »Susanne, da steht einer mit braunem Haar, der muß dein Bräutigam werden.« Aus dieser Vorhersagung wurde Ernst. Sie sahen sich, gefielen einander, heirateten sich und wurden die Eltern von sieben Söhnen und zwei Töchtern. – Der Wirkungskreis meines Großvaters war sehr beschränkt; hatte er aber sein Berufsgeschäft vollendet, dann füllte er die übrigen Stunden mit Drechseln und Tischlern aus, bildete schönes Hausgerät, hübsch ausgelegte Nähkästchen und Klöppelchen, womit die Großmutter zierliche Spitzen schlug. Auch zeichnete er kunstreiche Muster und Blumen mit Indigo zum Sticken, indes sie, als Meisterin in dieser Kunst, die jungen Mädchen in mancherlei weiblicher Arbeit unterrichte te. Übrigens war er ein Mann von einem hellen Blick ins Ganze; leicht stellte sich ihm dar, was nützte und taugte; dies wurde dann ergriffen und kräftig ausgeführt – er folgte der inneren Stimme in allem, was Gewissen und Pflicht ihn tun hieß. Er war immer mit sich zufrieden und begehrte wenig. Das erfreulichste Geschenk, was man ihm geben konnte, war ein Pfeifenkopf; er hatte eine Sammlung davon. Auch ergötzte er sich wohl an einem Vogel, einem Blutfinken, einer Amsel, die er abgerichtet hatte, Lieder zu flöten; und neben diesen war ich sein Liebling. Sobald sein Geschäft geendet war, kam er, mich zu warten, und trug mich nach meinem Willen, wohin ich verlangte; er war unverdrossen, wenn ich auch unartig war, und wußte auf eine freundliche Art mich zum Bessern zu lenken. – Vorsichtige Besorgnis, gewissenhafte Tätigkeit, zu ersetzen, wo Mangel war, zu erfüllen, was Hilfe heischte, Rechtlichkeit, stetes Vertrauen, ein Herz, wie Gott es schuf, und ein reiner Glaube, nahe an Überfrömmigkeit, doch das Schwärmen durch Tätigkeit gehindert – das war meine Großmutter. Beide personifizierten in sich das Zeitalter der sittlichen Häuslichkeit.
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