Die folgenden Seiten bringen meinen Dank an ein Musikerdasein dar, in das zu versenken mir während bald vierzig Jahren oft das Innigste und Gewaltigste des eigenen Lebens war. Poetendank – Laiendank. Selbst vertraute Freunde und Kameraden haben in dieser langen Zeit kaum erfahren, was der Meister mir bedeutete und was er in mir vollzog. In der Verehrung der Größesten aus allen Künsten waren wir einig oder belagerten uns doch im Kampf um die Wahrheit – dieser Eine stand draußen in der Kälte oder sollte abseits in der lauen Wärme warten, wo er mit anderen teilen und schlimme Vergleiche ertragen musste, falls er mit seinem Namen berufen wurde. Ich habe geschwiegen, wo ich Widerstand gegen Bruckner auch nur witterte, weil ich den Verklärten und Unversehrbaren nicht kränken lassen wollte, denn ich hatte eine Empfindung, als wäre er noch verletzlich, wenn ein Schimmer oder Klang seiner Seele in einem anderen noch lebenden Fleisch und Blute verweilte. Es war wie eine tröstliche Genugtuung, seine irdischen Leiden am Abglanz seines Einwirkens auf solche, die er gewonnen und gefeit hatte, fortgesetzt zu sehen. Als wäre er, indem man diese demütigte, über seinen irdischen Wandel unter den Feinden und Spöttern hinaus noch weiter zu demütigen gewesen! Dass der Verehrer Bruckners ein Schwärmer, Eigenbrötler, Fanatiker oder ein Mann mangelhaften Geschmacks und allzu genügsamer Bildung und Kenntnis hieß, das ist lange her. Aber es war. Es ist noch heute vielfach so, wenn auch unter höflicheren Formen. Da heißt es: Man verstände zu wenig von Musik, um sich über die Bezirke privater musikalischer Vorliebe nach dem schwerer Zugänglichen hinauszubemühen. Man möge sich dem immer verdächtigen, allzu massiv gewordenen Jubel der Überzeugten nicht als Nachzügler anschließen. Man bedauert plötzlich, auch in aller übrigen Musik nur ganz ungefähr zu verstehen, was sie meine. Gewisses tue dennoch erquicklich wohl, Gewisses reiße hin, Gewisses sei von vornherein zuwider. Man fürchtet sich vor der Überheblichkeit des Analphabeten. Man gibt sich als Krüppel, ohne bresthaft zu sein. Die Widerstrebenden befinden sich in bester Gesellschaft. Nicht, als ob es unnatürlich wäre, dass die meisten bedeutenden Musiker aus Bruckners Lebzeiten ihn nicht voll erkannten oder sich wider ihn sträubten. Auch heute fühlen sich ernste Könner – Schreiber, Spieler, Dirigenten – vor ihm und nach ihm zu Hause, bei ihm aber nicht. Vortreffliche Hörer, die sich wie sie im Technischen der Faktur auskennen, wenden ebenfalls ihre Fähigkeit lieber an andere als an ihn. Man sollte meinen, deutlicher, als es durch eine Schar hochragender Gelehrter geschehen ist, könne nicht bewiesen werden, dass bei Bruckner sogar die Technik nach großäugiger Logik, Dichtigkeit, Gedrungenheit dem Zepter des Genies gehorcht, also der Bezirk, wo sonst das Talent sich fürsten mag; und an keinen anderen Meister hat die Wissenschaft mehr technische Leistung aufschließen können als eben die äußerste. Aber beweisbar in der Kunst ist nicht einmal die Richtigkeit des Einmaleins, weil es, für sich allein, die Kunst nicht berührt. So lassen sich in all ihrem Zubehör, wo nicht die Zeichen, doch immer die Werte leugnen. Hinwieder gibt es Hörer, die, obwohl im Abstrakten wenig bewandert, alle Melodien Bruckners singen, pfeifen oder sich doch sinnlich vergegenwärtigen können, genau wie die Mozarts, und die Verlauf und Sinn seiner Symphonien so seelenheiter auswendig wissen wie das Gefüge der Symphonien Beethovens. Manche lassen sich hinterher eine Analyse vorführen: es wäre unanständig, einen empfangenen Hort nicht ordnen zu lernen. Aber sie vergessen nicht, dass niemand eine musikalische Analyse hören und niemand sie spielen kann, selbst der nicht, der sie gemacht hat.
Demnach gründen Liebe und Nichtliebe Bruckners anderswo. Man verneigt sich oder man versteift sich vor seinem Charakter. In ihm vollzieht sich das mystische Schauspiel, wie ein Wesen bei schlagendem Herzen aus der Zeit ins Zeitlose, aus dem Raum ins Unräumliche, aus dem Menschlichen ins Welthafte übertritt. In allen Schichten seines Daseins waltet der Zug von der Mitte der Person in die Mitte des Ungeheuren. Dem zu folgen ist unser einfaches Glück. Es wäre schlimm für mich, wenn ich nicht Lehre angenommen hätte, wo so viel gute Lehre am Wege liegt, historische, philologische, hermeneutische. Bruckner ist zu groß, um ein Geschenk nur an die Musiker, nur an die Musik zu bleiben. Auch die größten Dichter greifen über die Schrifttumskundigen und über das Schrifttum hinaus. Darum wenden wir das schwierigere »Im Anfang war« bald um in das wandernde »Uns ist in alten Mären« oder »Es begab sich«. Erstes Stück Über einen Bach bei der niederösterreichischen Schlossherrschaft Wallsee südlich der Donau führte seit Urgedenken eine Brücke. Nach ihr hieß der älteste geradenwegs auf Anton Bruckner führende Ahn im Mannesstamm Jörg Prukner »an der Prugh auf seiner hueb« (Hufe). Jörg war um 1400 geboren. Vielleicht sind die Brückenbauern aus Franken eingewandert. Sie saßen dann die Jahrhunderte hindurch um die Kirchen von Sindelburg und Strengberg auf dem Pruckenhof, dem Pyragut, in dem Markt Öd bei Amstetten, als Bauern ursprünglich, später als Gastwirte, Böttchermeister, Steinbrecher und andere Gewerbetreibende, auch als Ratsherren, manche von ihnen geadelt. Und erst Bruckners Vater Josef wurde in Oberösterreich geboren. Sie überdauerten in der Heimat viel kriegerische Not, Aufstände des Landvolkes, Türkeneinfälle, Pest und Pocken. Wir mögen Getöse, Gestöhn, Geschrei und Gelächter aus ihrer Zeitentiefe heraufhallen hören, aber wir vernehmen keinen einzigen Ton einer Musik zu Trost oder Trotz, die einer von ihnen erfunden hätte. Der Aufbruch in die Nähe der zu Klang verklärten Schöpfung geschah durch Bruckners Großvater, – freilich nur in die Nähe. Er hatte zwar das Böttcherhandwerk erlernt, doch gehorsam dem Drang zum Lehrberuf und damit zur Armut, ging er, ein sechzehnjähriger Jüngling, zur Vorbereitung nach Linz und wurde nach langer Helfertätigkeit in dem zwei reichliche Stunden von Linz entfernten Dorf Ansfelden als Schulmeister ansässig. Sein Sohn Anton, der Ältere, folgte ihm im Dienste und heiratete 1823 Theresia Helm, die Tochter eines Amtsverwalters, ein aus Kreisen wohlhabender Geschäftsleute in der Gegend von Steyr stammendes Mädchen. Theresia gebar am 4. September 1824 ihren Sohn Anton, unseren Meister, als erstes von elf Kindern. Und auch dieser tat Schulmeisterarbeit beinahe bis an seinen Tod, wenn man das zwölfjährige Organistentum um die Lebensmitte abrechnet. Dabei bleibe unvergessen, dass es der alternde und krankende Musikprofessor in der Hauptstadt seines Landes bitterer hatte als der jugendliche Anfänger in weltverlorenen und weltbehüteten Dörfern. Zuerst die Trockenheit im Kinderschulbetrieb, nachher die Nüchternheit in der theoretischen Lehre und immer die Sorge und immer der Mangel trachteten seine menschliche Fülle von der Grenze des Klangreiches zu verbannen, in dem sein Geist doch mitteninne wohnte und mächtig war.
Wie sein früher Ahn Jörg hauste auch er nach dem Namen, den er vom Schicksal empfangen hatte, gleichsam an einer Brücke, aber das andere Ufer war so fern, dass die Füße nicht hinführten und dass wohl das Jenseits in das wesensgleiche Diesseits herüberkommen oder das Diesseits sich ganz in das ihm wesensgleiche Jenseits verwandeln musste. Der Rhythmus, der sich durch die sämtliche gültige Musik Bruckners zieht und der zwei Viertel mit einer Triole von derselben Dauer bindet, mutet wie ein Sinnbild dessen an. Manchmal steht die Zweiheit am Anfang des rhythmischen Gebildes, manchmal die Dreiheit. Die Zweiheit schreitet auf festem Grund, die Dreiheit – so ist es bemerkt worden – schwebt und löst sich ab, und doch haben sie nur verbunden diese Wirkung. Bis zur wesensaufschließenden unwillkürlichen Formel und gar zu den riesigen durch zwei und drei teilbaren Satzfügungen der Symphonien war es ein langer Weg. Gehn altbayerische Volkstänze, die »Zwiefachen«, und manche Weisen der »Meistersinger« Wagners im »Brucknerrhythmus«, so ist der Rhythmus hier dennoch nicht von Bruckners Puls getrieben
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