In der Ausnützung ihrer heimischen Literaturprodukte sind uns die Franzosen und Engländer unbedingt voraus. Es herrscht dort ein ganz anderes, viel regulierteres Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und dem konsumierenden Publikum. Nichts bleibt unausgewertet, keine geistige Energie bleibt latent liegen, sondern sie wird allsogleich in neue Energieformen: in nationale, ästhetische, ethische, kulturelle Bewegungen umgewandelt. Die Gesellschaft hält das ganze Arbeitskapital ihrer geistigen Kapazitäten unter steter Beobachtung und sucht es sich so intensiv wie möglich zunutze zu machen. Diese beiden Länder haben einen viel größeren Verbrauch an Klassikern, als dies bei uns der Fall ist. Nicht als ob dort mehr bedeutende Köpfe hervorgebracht würden – es wäre viel leichter, das Gegenteil zu beweisen –, sondern es werden dort sozusagen viel mehr Genies »emissioniert«. Hat in Deutschland jemand etwas zu sagen, was eine neue Bedeutung enthält, so entwickelt sich sogleich im Publikum Misstrauen in zweifacher Richtung; zunächst: ob dies nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe, und sodann: ob es nicht etwa eine bloße Absurdität sei, ob die neue Wahrheit oder Tatsache nicht Widersprüche, Ungereimtheiten, Paradoxien enthalte (»paradox«, das ist ja das Lieblingswort des Deutschen). Da nun aber alle menschlichen Wahrheiten entweder uralt oder paradox sind (oder richtiger gesagt: stets beides zugleich sind), so ist jeder derartige Sprecher völlig hoffnungslos der Missgunst der Kritik preisgegeben. Andere Nationen sind nicht so vorsichtig. Sie fragen nicht lange, ob der neue Sprecher im Recht oder im Unrecht ist, ob er Vorgänger hat oder nicht, sondern sie nehmen seine Produkte hin als bemerkenswerte Äußerungen einer hochgespannten geistigen Aktualität, als Bewegungszentren, die geeignet sind, dem Gange des öffentlichen Lebens neue Beschleunigungen zu erteilen; als etwas, das freilich erst im Laufe der Geschichte seinen angemessenen Platz erhalten wird, das aber zunächst unter jeder Bedingung gehört und aufgenommen werden muss. Und über den Streit der Partialmeinungen hinweg stellen sie die wenigen Persönlichkeiten, froh, sie zu besitzen, in ihre Nationalgalerie. Der entgegengesetzte Prozess ist in Deutschland nicht nur in der Aufnahme zeitgenössischer Autoren zu verfolgen. Auch zur Vergangenheit haben wir noch immer jene missgünstige Haltung eines übergewissenhaften Lehrers, der nur widerstrebend gute Noten austeilt. Wir sind so ängstlich und behutsam in der Verleihung der Klassikerwürde, dass uns schließlich nur ein paar Bücher in den Händen geblieben sind, von denen die einen heute ganz tot und die anderen so zerlesen, abgegriffen und von der Mikrologie zerschabt sind, dass sie für uns jeden Geschmack verloren haben. Die geistige Bedürfnislosigkeit des deutschen Publikums ist derzeit erschreckend. Es gibt wenig gebildete Franzosen, die mit Vauvenargues, Chamfort, Labruyère und vielen anderen, die kaum dem Namen nach zu uns gedrungen sind, nicht eingehend vertraut wären, in England stehen die Schriften Bacons, Carlyles, Macaulays in jedem Regal, während bei uns immer noch alle Literatur, die sich nicht geradezu aus Schulautoren zusammensetzt, als Luxus gilt. Es war nicht immer so, und die unvermeidliche Reaktion beginnt sich bereits anzukündigen. Unter diesen heimlichen Klassikern befindet sich auch Lichtenberg. Sein Mangel an jeglicher Einseitigkeit, Pedanterie und Trockenheit macht ihn für jedermann zugänglich. Von Kant hat Goethe gesagt, wenn er ihn lese, so sei ihm zumute, »als trete er in ein helles Zimmer«. Auf wenige deutsche Schriftsteller könnte dieses Bild mit ebensolcher Berechtigung angewendet werden wie auf Lichtenberg. Nur besitzt dieses Zimmer noch allerlei Winkel, Erker und Gänge, die in die absonderlichsten Polterkammern führen. Es ist von bedeutenden Köpfen zunächst immer von vornherein anzunehmen, dass sie eine Art Brennpunkt ihres Zeitalters bilden. Und da alle Strahlen sich hier sammeln, so ist es beliebt geworden, nun die einzelnen Lichtlinien vom Kreuzungspunkt zurückzuverfolgen und so die Zeit aus ihren Menschen und die Menschen aus ihrer Zeit zu deduzieren. Dieses allgemein übliche Gesellschaftsspiel versagt bei Lichtenberg.
Seine Zeit war die reichste und geistig bewegteste, die Deutschland jemals erlebt hat; dennoch war er keineswegs ihr leuchtender Fokus. Seine Wirksamkeit fällt in das letzte Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, das Zeitalter zunächst der Aufklärung und dann der Klassiker. Die kurze Episode der deutschen Aufklärung, vielfach missverstanden als eine Art Vorstufe der klassischen Philosophie und Dichtung, ist im Gegenteil eine jener wohltätigen rückläufigen Bewegungen, die in der Geschichte der deutschen Kultur nichts Seltenes sind. In der »Aufklärung« geht der deutsche Geist zurück: er geht zurück wie ein Springer, der sich einen bedeutenden Anlauf nimmt. Diesem Ansprung, unvermittelt und impulsiv wie er kam, entspricht dann jene außerordentliche, wunderbar intensive Geistesbewegung, die die beiden letzten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts erfüllt hat und diesem Zeitalter den Namen eines »klassischen« eingetragen hat, obgleich es nichts weniger als langweilig war. In diesen wenigen Jahren durchläuft der deutsche Geist alle Entwicklungsstadien in Kunst, Wissenschaft und Philosophie, die nötig waren, um die neue Zeit heraufzubringen, er durchläuft sie wirklich, mit der Schnelligkeit und Energie eines Läufers, der weiß, dass die Stunde geschlagen hat und die Zeiten sich erfüllt haben. Um 1800 ist die moderne Kultur fix und fertig, in erster Linie von deutschen Köpfen geschaffen, und das neunzehnte Jahrhundert hatte nichts zu tun, als die Früchte völlig ausreifen zu lassen, zu sammeln und zu sichten. Welche Stellung hatte nun Lichtenberg, dieser bewegliche, regsame, überall geschäftig anteilnehmende Geist in diesem atemlosen Treiben? Wir wollen es gleich vorwegnehmen: er war das ideale Publikum dieser ganzen Bewegung. Wenn wir dem oben gebrauchten Bilde aus der physikalischen Optik ein anderes entgegenstellen wollen, so könnten wir sagen, er verhielt sich zu seiner Zeit nicht wie ein Brennglas, sondern wie ein Prisma, das das zuströmende Licht seiner Umgebung in die vielfältigsten Farbennuancen auseinanderlegt. Neben ihm lebten Kant, Lessing, Goethe, Fichte oder vielmehr: er lebte neben ihnen. Fast nirgends finden wir seinen Namen von den Zeitgenossen mit jenem Nachdruck genannt, den er verdient hätte. Im Bewusstsein seiner Mitmenschen lebte er nicht als der, der er war. Er war weder geneigt noch berufen, die Räder der Literaturgeschichte zu bewegen. Er mochte darin ähnlich denken wie der ältere Goethe, der auch lieber über Pflanzen, Steinen und alten Memoiren saß, als sich in die literarische Propaganda mischte, bis der temperamentvolle Realismus Schillers ihn wieder in die Aktualität hineinriss. Lichtenbergs äußeres Leben verfloss zwischen physikalischen und belletristischen Gelegenheitsarbeiten, zwischen Wettermachen und Kalendermachen, ein paar kleinen Mädchen und ein paar guten Freunden. Zwischen diesen Alltagsdingen wuchs sein Lebenswerk. Aber er wusste es nicht.
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