Deutschlands kritische Nacht war gekommen, die Wärter saßen kopfschüttelnd am Bette, alte Basen machten bedenkliche Runzeln, und die Lichter wurden nicht mehr geputzt. Da richtete sich der Kranke plötzlich auf, saß ganz gerade, blickte umher und fragte: »Wo bin ich?« – »In Ihrer alten Wohnung, bei den lieben Ihrigen« – antwortete der Arzt, freundlich und vergnügt, und machte eine siegreiche Miene. Ein wohltätiger Schweiß war ausgebrochen, die Fieberphantasien hatten aufgehört, der gute alte Puls war gleich wieder da, und die Gesundheit kehrte mit schnellern Schritten zurück, als sie sich entfernt hatte. Noch einige Tage blieb der Genesende schwach; aber er lächelte selig, alles war ihm recht, er war alles zufrieden. Noch einige Tage, und Vetter Michel stand wieder auf den Beinen, schnitt sich zwölf Dutzend neue Federn und aß abends seinen Kartoffelsalat. Noch einige Tage, und das Testament, in der Furcht des Todes geschrieben, wurde hervorgesucht und zerrissen; es sollte alles beim alten bleiben. Noch einige Tage, und der Krankenwärter kam glückwünschend und erinnerte an den neuen blauen Rock, den ihm der Kranke versprochen hatte, wenn er wieder aufkäme. Der Gesunde lachte den guten Mann aus und sagte: »Im Fieber mag ich wohl viel dummes Zeug gesprochen und versprochen haben …« Ach! es war eine schöne Zeit. Zwar habe ich nicht mitgefochten im Befreiungskriege – mir fehlte das gehörige Maß des Körpers und des Glaubens –, aber ich habe den Franzosen auch kleine Stöße gegeben. Von der Polizeistelle eines rheinischen Bundesstaates war ich, ohne Stuhl und Stil zu wechseln, zur Polizeistelle eines deutschen Bundesstaates gekommen. Früher hatte ich gehorsame, eilfertige Briefe nach allen Postwinden geschrieben, um arme deutsche Jungen, die sich versteckt hatten, weil man sie als widerspenstige Konskribierte verfolgte, zu erspähen und den französischen Metzgerknechten auszuliefern. Jetzt schrieb ich noch gehorsamere, noch eilfertigere Briefe, um alte Deutsche mit pedantischen Herzen, die immer noch Liebe und Bewunderung für Napoleon zeigten, als Verräter festzuhalten und deutschen Metzgerhunden zur Bewachung zu übergeben. Einmal fing man einen solchen Spion, und ich mußte ihn auf Befehl meiner Vorgesetzten zwingen, sich bis auf das Hemd auszukleiden, im nachzusehen, ob er sich nicht die drei Farben tätowirt hätte. Ich fand nichts, sah, daß alles gut war und Deutschland wirklich frei. Darauf bekam ich meinen Abschied, und das war auch gut. Ich trieb Privatpatriotismus und gab eine Zeitschrift heraus: Die Wage. Ach Himmel! An Gewichten fehlte es mir nicht, aber ich hatte nichts zu wiegen. Das Volk auf dem Markte tat nichts und machte keine Geschäfte, und das Völkchen in den höhern Räumen handelte mit Luft und Wind und andern imponderablen Stoffen. Ich war in sehr großer Verlegenheit. Das Journal war angekündigt, der Druck hatte schon begonnen, die Abonnementsgelder waren schon ein- und ausgezogen, und ich wußte noch nicht, wie ich mein Versprechen erfüllen und das Versprochene voll machen sollte. Da riet mir ein Freiwilliger Jäger, der sein Leben liebgewonnen und, um es fortzusetzen, Komödiant geworden war, ich solle über das Theater schreiben. Der Rat war gut, und ich befolgte ihn. Ich setzte die wohlweise Perücke auf und sprach Recht in den wichtigsten und hitzigsten Streithändeln der deutschen Bürger – in Komödiensachen. Wie ein Geschworener urteilte ich nach Gefühl und Gewissen; um die Gesetze bekümmerte ich mich, ja ich kannte sie gar nicht. Was Aristoteles, Lessing, Schlegel, Tieck, Müllner und andere der dramatischen Kunst befohlen oder verboten, war mir ganz fremd.
Ich war ein Naturkritiker in dem Sinne, wie man einen Bauer vor zwanzig Jahren – ich glaube, er hieß Maus –, der Gedichte machte, einen Naturdichter genannt hatte. Die Katze Kritik ging damals sehr schonend um mit jener Maus, zog ihre Krallen ein und liebkoste sie. Eine gleiche Nachsicht fand ich auch, wahrscheinlich aus gleichem Grunde: weil man eine gewisse bäuerliche Natürlichkeit an mir bemerkt. Die Menschen sind gar nicht so schlimm, als man gewöhnlich glaubt. Sie lassen jedem gern seine Meinung, häßlich oder schön, wenn er nur fest darinsteckt wie in seiner Haut; versteckt man sich aber hinter einer Meinung, dann ziehen die Leute mißtrauisch den Vorhang weg, um zu sehen, wer dahinter ist. Meine Kritiken fanden vielen Beifall, sogar Kotzebue lobte mich. Wie wütend war ich über Sand, als er mir meinen lieben guten Kotzebue umgebracht, der mich gelobt hatte. Es war Hamlet, der Polonius erstach, Rattengift – dummes Volk! So sind diese dramaturgischen Blätter entstanden, die ich jetzt, gesammelt und vermehrt, den Lesern vorlege. Möchten sie größere Freude daran haben, als ich selbst dabei gefunden. Ich beklage verlorne Zeit und fruchtlose oder übel verwendete Mühe. Der Kritiker befördert so wenig die schöne Kunst, als der Scharfrichter die Tugend befördert. Beide schrecken nur von Vergehungen ab, beide bestrafen sie nur. Ich fange an zu glauben, daß die armen Bühnendichter doch recht haben mögen, wenn sie ihre Rezensenten Freudestörer schelten. Wir sind wirklich garstige Raupen, die Blatt nach Blatt abfressen, bis vom Buche nichts mehr übrigbleibt als der Deckel und die Rechnung des Buchhändlers. Ehe die Schlange Kritik mich verführte, war ich unschuldig wie der Mensch im Paradiese; ich konnte über einen Ifflandschen Hofrat, wenn er tugendhaft war, weinen wie ein Bürgermädchen, und über Bären und närrische Pudeln gleich einem Wiener lachen. Da aß ich vom Baume der Erkenntnis, lernte Gutes vom Bösen unterscheiden, und meine Zufriedenheit war hin. Da kam ich mit einem Vergrößerungsglase in das Schauspielhaus und entdeckte häßliche Flecken und Unebenheiten, wo ich früher alles schön und glatt gefunden. Da fing ich die armen Leute zu plagen an, und mich am meisten. – Ein Kerl, der kritisiert, Ist wie ein Tier auf dürrer Heide, Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, Und ringsumher liegt schöne grüne Weide. Es ist wahr, ich hatte bei meinem dramaturgischen Bestreben eine schönere und bessere Absicht als die, einen armen Dichter zu kränken, den die Natur schon genug gekränkt hatte, und seine armen Bewunderer zu verspotten. Aber ich blieb immer ein Tor, zu hoffen, das Feiertägliche werde wirken, wo das Wochentägliche nicht gewirkt, und zu vergessen, daß es Lehren gibt, die, wenn nötig geworden, fruchtlos sind. Ich sah im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens, und wenn mir das Bild nicht gefiel, schlug ich, und wenn es mich anwiderte, zerschlug ich den Spiegel. Kindischer Zorn! In den Scherben sah ich das Bild hundertmal. Ich war bald dahintergekommen, daß die Deutschen kein Theater haben, und einen Tag später, daß sie keines haben können. Das erstere war mir gleichgültig – man kann ein sehr edles, ein sehr glückliches Volk sein ohne gutes Schauspiel – aber das andere betrübte mich.
Dieser Schmerz gab meinen Beurteilungen eine Leidenschaftlichkeit, die man mir zum Vorwurfe gemacht, weil man sie mißverstanden. »Sie sind zu scharf« sagten mir oft Freunde, weil sie dachten, ich hätte es auf einen Dichter, einen Schauspieler abgesehen. Guter Gott! Wäre der Dichter oder der Schauspieler mein Sohn gewesen, ich hätte ganz so von ihm gesprochen wie von dem Fremden, so wenig dachte ich daran, einem wehe zu tun. Es war oft komisch, wenn junge Leute, die Respekt vor mir hatten, im Theater oder nach demselben auf meine Worte horchten, was ich urteilte von dem neuen Stücke, ob ich es für gut oder schlecht erklärte. Wahrhaftig, ich hatte beim zweiten Akte den ersten, wenn der Vorhang fiel, alles vergessen, und ich erinnerte mich gar nicht, ob das Stück gut oder schlecht war. Aber am folgenden Tage kam immer etwas, das mich daran erinnerte: das Stück mußte schlecht gewesen sein, und da setzte ich mich hin und beurteilte es und tadelte die Zeitung des Morgens im Komödienzettel des Abends, die Natur in der Kunst. Ich schlug den Sack und meinte den Esel. Das französische Schauspiel, das klassische zumal, ist mir weit mehr zuwider als das deutsche; aber nur, wenn ich es lese, nicht, wenn ich im Lande es darstellen sehe. Dann gewahre ich bald, daß die Gebrechen des französischen Dramas die der Franzosen, die ihrer Nationalität sind; die Gebrechen des deutschen Dramas aber zeugen von der Unnationalität der Deutschen, und das ist zum Verzweifeln, das ist keine bloße Komödie. Ein Volk, das nur der Pferch zum Volke macht, das, außer demselben, den Wolf fürchtet und den Hund verehrt und, wenn ein Gewitter kommt, die Köpfe zusammensteckt und geduldig über sich herdonnern läßt; ein Volk, das beim Jahresschlusse der Geschichte gar nicht mitgerechnet wird, ja, das sich selbst nicht zählt, wo es selbst die Rechnung macht, – ein solches Volk mag recht gut, recht wollig, ganz brauchbar für das Haus sein; aber es wird kein Drama haben, es wird in jedem fremden Drama nur der Chor sein, der weise Betrachtungen anstellt, es wird nie selbst ein Held sein. Alle unsere dramatischen Dichter, die schlechten, die guten und die besten, haben das Nationelle der Un-Nationalität, den Charakter der Charakterlosigkeit. Unser stilles, bescheidenes, verschämtes Wesen, unsere Tugend hinter dem Ofen und unsere Scheinschlechtigkeit im öffentlichen Leben, unsere bürgerliche Unmündigkeit und unser großes Maul am Schreibtische – alles dieses vereint, steht der Entwicklung der dramatischen Kunst mächtig im Wege. Reden heißt uns handeln und schweigen groß handeln. Die Skulptur kam in der christlichen Zeit durch die Entwöhnung, nackte Gestalten zu sehen, herunter, und die Ungewohnheit, nackte Charaktere zu sehen, läßt die dramatische Kunst in Deutschland nicht aufkommen. Zwar versetzt sich der Deutsche leicht in jedes neue Verhältnis, in jede fremde Empfindung; aber diese Leichtigkeit wird durch die andere, sich aus jeder Lage zu versetzen, wieder zunichte gemacht. Der Deutsche reflektiert über alles, sieht alles aus der Vogelperspektive und ist darum nie in der Mitte der Sache. So ist er erhaben über den Scherz, handhabt ihn und ist nie scherzhaft. Den Punkt, den sich Archimedes wünschte, hat er gefunden, und er sollte wünschen, daß er ihn verlöre. Und tritt der Deutsche in ein fremdes Verhältnis ein, dann geschieht es als Gast, er ist bescheiden und verlegen und tut nicht wie zu Hause darin. Der Deutsche hat alles und ist nichts, und die dramatischen Charaktere seiner Schauspiele haben darum nur, was sie sein sollten. Im Lustspiele, wenn ja einmal die Dummheit aufhört und der Witz erscheint, sehen wir den Geist, aber nicht den Charakter des Witzes; wir sehen witzige Geister, aber keine witzige Charaktere. Die Personen haben Witz und sind nicht witzig. Bezeichnend für diese Gattung der Fehlerhaftigkeit ist Raupach, ein Mann von Geist, Geschmack und schöner Darstellung. Alle seine komischen Personen machen sich über sich selbst lustig, greifen dadurch in das Recht des Zuschauers ein und rauben diesem alle Lust. Sein Eifersüchtiger in »Laßt die Toten ruhen«, sein Shakespeares-Narr in »Kritik und Antikritik«, persiflieren ihren eigenen Charakter; der eine verspottet die Eifersucht, der andere die Shakespeare-Manie.
Sie tragen die Maske ihres Charakters, verstellen ihre Stimme, sind aber nicht, was sie scheinen. Ich habe, soviel ich mich erinnere, in den Kritiken dieser Sammlung noch andere Bemerkungen über die Unbedeutendheit des deutschen Lustspiels und die Schuld daran gemacht, und ich will hier darauf hinweisen. Hat das Lustspiel keine Lust, ist das Trauerspiel dafür um so trauriger. Man braucht ein doppeltes Maß von Tränen, eines für die Leidenden im Gedichte, ein anderes für den leidenden Dichter selbst. Der arme Tragödist, ein geplagter Schulmeister, auf dessen Bänken naseweise Könige und wilde Völker sitzen, und der die Rute gebrauchen soll für beide, bekommt sie öfter, als er sie austeilt. Er ist furchtsam, versteckt sich hinter die Tugend, sagt, nicht er gebiete, sondern sie, nicht er sei streng, sondern sie, und man möge ihm nichts übeldeuten. Im Hause haben wir Mut, der Deutsche hält etwas auf sein Hausrecht; da sind wir imstande, wie der Geiger Miller in »Kabale und Liebe«, sogar einem Präsidenten mit dem Hinauswerfen zu drohen. Aber vor der Türe, wo die Polizei beginnt, wenn die Dekoration einen Palast, eine Straße, einen Markt vorstellt, da sind wir ängstlich und blöde, sehnen uns nach der warmen Stube, nach den gemütlichen Pantoffeln zurück; und dichten wir Tragödien in dieser weinerlichen Stimmung, wird ein lyrisches Gedudel, ein Papa Tell, ein empfindsamer Tiroler, ein operlicher Belisar daraus. Im Leben und im Drama kommt es darauf an, recht zu behalten; dem ehrlichen Deutschen aber liegt daran, recht zu haben, und darum haben seine Helden alle recht und die Geschlagenen immer unrecht. Unser Hausherz, unsere Provinzialempfindung verdirbt die Kunst. Dem tragischen Dichter ergeht es wie dem Schweizersoldaten. Er steht mitten im tragischen Schrecken, der Sturm der Schlacht tobt wild, Waffen klirren, Wunden ächzen, das Leben steigt im Preise, der Tod wird wohlfeil, der Augenblick gebietet, der Mut über den Augenblick, die Flamme der Begeisterung erwärmt selbst den kalten Feigling, der Held kämpft wie ein Löwe – da, horch! – da summt einer den Kuhreigen; der Held steht stille, es wird ihm schwabbelig, seine Augen tröpfeln, er läßt den Arm sinken, wirft das Schwert hin, desertiert, vergißt Ehre, Pflicht, Ruhm, alles, läuft in die Heimat zurück, setzt sich hinter den Ofen und weint unaufhörlich. Da sitzt der Held, statt zu streiten, wann im Herzen des Dichters – warm, weil er sich warm gelaufen; denn was ist ein deutsches Herz? – eine gefrorene Schweiz, nichts mehr.
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