| Books | Libros | Livres | Bücher | Kitaplar | Livros |

Ecce poeta – Egon Friedell

Welchen Zweck haben eigentlich jene abstrusen Organismen, die von Zeit zu Zeit in der Entwicklung unserer Spezies hervortreten, diese Dichter? Sollen wir uns damit zufrieden geben, zu sagen, sie seien mysteriöse wandelnde Paradoxa? Sie haben gelebt, sie leben noch, und alles Lebendige hat einen Sinn. Sie bewegen sich abseits vom realen Dasein, das ist unleugbar; aber hierbei dürfen wir nicht stehen bleiben. Das ganze Leben ist eine große Ökonomie, wir können dem Dichter keine Sonderstellung einräumen. Wozu können wir ihn gebrauchen? Was ist sein praktischer, handlicher Nutzwert? Wir haben uns daran gewöhnt, diese Frage an alles zu stellen, und darin liegt nichts Banausisches oder Triviales. Jedes Ding steht innerhalb der Weltbewegung und bildet eine ihrer Komponenten; folglich hat es eine Funktion; folglich hat es einen Nutzen. Zudem ist es gerade bei der Kunst für jedermann offen ersichtlich, daß sie kein Luxusartikel ist, sondern etwas eminent Praktisches, vielleicht die praktischeste Sache von der Welt. Zunächst ist jede Dichtung der Niederschlag einer ganzen Menge genauer persönlicher Beobachtungen, die ein bestimmter zum Beobachten besonders geeigneter Mensch gemacht hat und die er den anderen Menschen anbietet, um ihnen dieselben mühevollen Erfahrungen zu ersparen oder ihnen zu ermöglichen, daß sie sie auf einem bequemeren Wege erreichen: alle Dichtung ist abgekürzte Empirie, sie erfüllt einen vereinfachenden, ökonomisierenden Zweck, genau wie jede andere Erfahrungswissenschaft. Sodann: sie ist gar nicht etwa eine Art Überschuß und Überfluß im menschlichen Dasein, denn wenn sie das wäre, so könnte ich sie ja entbehren. Ich kann sie aber nicht entbehren, wie etwa das Kunsthandwerk. Einen persischen [16] Teppich, eine englische Krawatte, eine japanische Stickerei kann ich haben oder nicht haben: es macht in der Dynamik meines Lebens nichts aus, ob diese Dinge mich umgeben oder nicht — das heißt: wenn ich kein Snob bin. Aber bei meinem Dichter habe ich keine Wahl, den muß ich unbedingt haben, und solange ich ihn nicht gefunden habe, ist meine Seele unterernährt und leidet gleichsam an „chronischer Dyspnoë“. Kaum habe ich diesen Menschen, der alles ausspricht, was ich brauche, so strömt plötzlich neuer Sauerstoff in meinen geistigen Organismus, die Blutzirkulation reguliert sich, die Dyspnoë verschwindet, und ich bin gesund. So geht es nicht bloß dem einzelnen, sondern ganzen Zeitaltern. Ein Zeitalter, das nicht seinen Dichter findet, ist pathologisch. Wenn Dichtungen Luxusartikel sind, dann ist frische Luft auch einer. Fragen wir also getrost nach ihrem Nutzen. Die förderlichen Dienste, die der Dichter seinem Zeitalter leistet, sind allerdings zum Teil so ungewöhnlicher Natur, daß sie leicht wie das Gegenteil aussehen können. Eines seiner Haupttalente ist zum Beispiel die Fähigkeit, zu fragen. Er fragt, wo es sonst niemand tut. Er gräbt den ganzen Boden seines Zeitalters um, unterwühlt ihn, bohrt Gänge, legt neue Erdschichten bloß und hilft mit dieser schädlichen, unterminierenden Tätigkeit den vorhandenen Humus zerstören. Er bringt Unterirdisches ans Licht, das niemand von ihm verlangt hat, hämmert an die festesten Dinge mit seinen Zweifeln. Im scheinbar Einfachsten entdeckt er die unauflösliche Verwicklung, unter jeder Oberfläche erspäht er die unergründlichsten Tiefen, das Klarste entlarvt er als dunkles Problem. Seine Mission ist: Unruhe und Mißtrauen zu verbreiten. Er macht das Leben, das man eben noch mittels Tabellen [17] und Systemen eingefangen zu haben glaubte, Der Wert der Vieldeutigkeit neuerdings zu einer aufreizenden, unentwirrbaren, verhängnisvollen Angelegenheit. Er schließt die solidesten Gesteine auf, zerbröckelt Felsen und verursacht geologische Umbildungen.


Seine scharfen Fragen dringen durch die Lücken und Risse der geistigen Schicht, auf der wir soeben behaglich wohnen, lockern sie auf, verwittern sie, spalten sie auseinander. Man darf in jederlei Sinn sagen: der Dichter ist das Salz der Zeit. Dies ist offenbar eine sehr nützliche Funktion. Denn woran messen wir die Macht und Höhe einer bestimmten Kultur? Keineswegs an ihren „positiven Errungenschaften“, an ihren „Wahrheiten“ und kompakten Erkenntnissen. Wonach wir bei ihrer Bewertung fragen, das ist die Intensität ihres geistigen Stoffwechsels, ihr Vorrat an lebendigen Energien. Wie die physische Leistungsfähigkeit eines Menschen nicht von seinem Leibesumfang abhängt, sondern von der Kraft und Schnelligkeit seiner Bewegungen, so wird auch die Lebenskraft einer Zeitseele von nichts anderem bestimmt als von ihrer Beweglichkeit und Elastizität, von der inneren Verschiebbarkeit ihrer Teile, von der Labilität ihres Gleichgewichts, kurz: von ihrem Reichtum an Problemen. Hier liegt das eigentliche Gebiet geistiger Produktivität. Der Fortschritt des Menschen besteht in der Zunahme seines problematischen Charakters. Je polychromer die Ideale einer Zeit sind, je dehnbarer ihre Werte, desto vergeistigter erscheint sie uns. Gewisse Menschen schmecken fade, gleich chemisch reinem Wasser. Was hilft es uns, daß der Kenner uns versichert, hier sei Wasser, unser Lebensquell, in seiner edelsten, geläutertsten Form, in seiner Idee gleichsam, nichts mehr sei da als reines H und reines O: wir mögen [18] es doch nicht trinken. Lieber noch halten wir die Hand unter die Dachtraufe. Und ebenso geht es uns mit Leuten, die nur die allgemeinen Bestandteile des Menschen haben und nichts weiter. Sie sind uns eben zu destilliert, zu „abgeklärt“, wie wir höflich umschreibend sagen: in Wirklichkeit aber meinen wir damit ganz einfach, daß sie ungenießbar sind. Sie sind ohne Farbe, Geschmack und Nährwert, sie haben keine Salze und keinen Erdgehalt. Dasselbe gilt von ganzen Zeitaltern: sie sind nichts Lebendiges, keine Quellen; alles ist aus ihnen herausgeschlämmt, herausgedampft; es fehlt ihnen an scharfen Säuren und bitteren, unlöslichen Bestandteilen: an Problemen. Dies ist denn auch der Grund, warum die religiösen und künstlerischen Kulturen auf die Nachwelt kommen und warum rein wissenschaftliche Zeitalter nur vorübergehende Vitalität besitzen. Die Wissenschaft verbessert die allgemeine Ökonomie des Daseins; sie entdeckt einigte neue Gesetze, die geeignet sind, die Gleichung unseres Lebens ein bißchen zu vereinfachen; sie macht den Planeten zu einem komfortableren und weniger strapaziösen Aufenthalt; aber wir nehmen ihre Gaben hin wie Brot und Äpfel, mit einer gewissen animalischen Genugtuung, jedoch ohne in eine höhere Geistesverfassung zu geraten und den Antrieb zu eigener Seelentätigkeit zu empfangen. Die reellen Resultate des menschlichen Geistes, seine Funde und Treffer, ob es nun Entdeckungen im Gebiet des Denkens oder Erfindungen im Reich der Materie sind, enthalten nichts Tonisierendes, nichts, was unser Eigenleben steigert. Wir „legen sie uns zu“: unsere Berührung mit ihnen ist der Vorgang einer Addition, nicht einer Multiplikation oder Potenzierung. Die Schöpfungen der Kunst und Religion dagegen, die die Maschine [19] des Lebens keineswegs vervollkommnet haben, sondern sich darauf beschränkten, die an sich schon so zweideutige Angelegenheit des Daseins noch mehr zu verwickeln und das sichere Lebensgefühl, auf dem der Mensch von Natur ruht, zu erschüttern, haben dennoch immer über ein geheimnisvolles geistiges Energiekapital verfügt; sie sind wie Wein, der unsere Moleküle zwingt, in lebhaftere Schwingungen zu geraten, neue Blutwellen zum Kopfe führt und unseren gesamten Kreislauf beschleunigt. Fortschritt löst auf Die Griechen mit ihren Mysterien und Dionysien, ihrer Verwirrung in Staat und Gesellschaft, ihrer seltsam narkotisierenden und beirrenden Dichtung und Philosophie, deren ganze Geschichte nichts ist als ein ununterbrochenes geistiges Erdbeben, sie waren das problematische Volk par excellence; sie haben nur Schleier über das Rätsel des Daseins geworfen und den Himmel mit ihren beängstigenden Fragen verdüstert; und doch gehen sie unzerstört durch die Geschichte, jedem Jahrhundert ein neues Antlitz zeigend, und obgleich es wahrscheinlich unmöglich ist, zu erfahren, wer sie wirklich waren, so ist doch über kein Volk der Welt so viel nachgedacht worden. Oder gerade darum. Wenn wir den verschiedenen historischen Forschungen nachgehen, so müssen wir annehmen, daß sie ein Volk von scholastischen Freidenkern, sittenlosen Moralisten, harmonischen Neurasthenikern und weltabgewandten Wirklichkeitsmenschen waren. In Wahrheit sind das aber gar keine Widersprüche.

Der wirkliche Sachverhalt ist der: wer die Griechen waren, sagen uns alle diese Auffassungen nicht, oder doch nur sehr einseitig; aber wer und welcher Art die Auffassenden waren, das erzählen sie uns sehr genau: nämlich das Mittelalter scholastisch, die Renaissance sinnlich, die Aufklärung moralistisch, Goethe harmonisch und unsere Zeit neurasthenisch. [20] Ob die Griechen „Heiden“ waren in unserem Sinne, wer kann das bestimmt behaupten? Aber daß es die Menschen der Renaissance waren, das ist ganz ausgemacht. Von den Griechen können wir nur eines mit Sicherheit aussagen: daß sie problematisch waren. Das heißt: ihre Kultur hatte einen so großen geistigen Ausdehnungskoeffizienten, daß sie sich über alle Zeiten verbreiten konnte. Das Christentum hat das Leben zu einer Tatsache der Mystik gemacht oder, wenn man will, zu einer puren Mystifikation, und doch hat es durch seine Problematik die Menschen immer wieder hypnotisiert. Die italienische Renaissance war ein Zeitalter von anarchischer Geistesverfassung, das nichts mehr glaubte und noch nichts wußte, und dennoch haben wir das Gefühl, daß das Leben damals schön, reich und kraftvoll gewesen sein muß. Shakespeare trat nicht mit dem Anspruch auf, den Menschen zu ergründen, sondern seine Unergründlichkeit zu erweisen. Racine und Corneille haben eine höchst saubere und durchsichtige Psychologie getrieben, die den Menschen und seine Leidenschaften hinreichend erklärt; eben darum sind sie so langweilig. Die deutsche „Aufklärung“ in ihrer Sucht, über alles Vernunft, Logik und Tugend zu verbreiten, hat über nichts aufgeklärt; es sei denn über ihre völlige Unfähigkeit, etwas aufzuklären. Der Pegel der Kultur steht am tiefsten, wenn sie am eindeutigsten ist. Ägyptizismus und Chinesentum — zwei ganz unproblematische Kulturen — sind für uns überhaupt nicht vorhanden. Skeptiker wie Lichtenberg, Montaigne oder Nietzsche sind die Lieblinge des modernen Lesers, und vom ganzen Mittelalter ist nichts übriggeblieben als ein paar mystische Schriften. Skeptizismus und Mystik haben allein das Privileg auf Unsterblichkeit. [21] Wird man nach alledem sagen dürfen, die Lebensfähigkeit einer Kultur sei bestimmt durch die Zahl ihrer „aufbauenden Elemente“? Im Gegenteil. Die ganze Entwicklungsfähigkeit und fortschreitende Kraft, die ganze Gesundheit des Menschengeschlechts hängt ab von der Menge geistigen Dynamits, der ihm zur Verfügung steht. Aller Fortschritt zersetzt, trennt, löst auf, zersplittert kompakte Solidaritäten, zerreißt althergebrachte Zusammenhänge, zerstört, sprengt in die Luft. Die Seele des Menschen, die einmal eine Einheit war, wird immer unübersichtlicher, zerlegt sich in immer zahlreichere Bestandteile. Aber damit hat sie sich auch vervielfältigt. Erfahrung und Erkenntnis vermögen abschließende Bilanzen zu ziehen, sie sind dazu sogar berufen; aber wir fühlen dennoch instinktiv, daß der eigentliche Beruf unseres Geistes irgendwo anders liegt. Daher vermag uns alles völlig Positive wenig zu sagen; und eine Zeit, die möglichst viele Probleme gestellt hat, scheint uns immer größer als eine, die möglichst viele Der Dichter und die Sphinx Die zwei Hälften des Kunstwerks gelöst hat

.

PDF Herunterladen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

PDF • Kostenlose eBooks © 2020 | Free Books PDF | PDF Kitap İndir | Baixar Livros Grátis em PDF | Descargar Libros Gratis PDF | Telecharger Livre Gratuit PDF |