Ich erlaube mir, bevor ich den vorliegenden Roman dem deutschen Lesepublikum vorführe, noch einmal auf die frühern Romane des Verfassers hinzuweisen, die seinen literarischen Ruf begründeten. In den „Pionieren des Ostens“ („Beglii w Noworosii“) und in der „Familienchronik“*) finden wir nur einen Carton des großartigen Bildes, das Danilewski in der Schilderung von Land und Leuten Neurußlands in romantischem Gewande entworfen hat. Seit undenklichen Zeiten, noch an die Epoche der Blüte der Zaporoger Kosaken anknüpfend, bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, bildete Neurußland das gelobte Land der Unterdrückten, der mit der bestehenden Ordnung Mißvergnügten, die das schwere Joch abschüttelten, um wenn auch als Flüchtlinge die Luft der Freiheit zu athmen. Auf diesen Boden des freigewordenen Sklaven, gegenwärtig mit seinem reichen Gebiete der Herd der Production, die nationalökonomische Basis des russischen Reiches, führen uns die Romane unseres Autors. Der hie und da krasse Realismus, der uns in den mit Meisterhand entworfenen Charakteren und Situationen _________________ *) Universalbibliothek Nr. 542-545 und 602, 602. 4 entgegentritt, findet in den thatsächlichen Verhältnissen seine Begründung. Der Uebergang von der die Menschheit entwürdigenden Leibeigenschaft zur unbeschränkten Freiheit mußte zur Zügellosigkeit und Willkür führen. Raub, Mord, Brandlegung gehörten zur Tagesordnung, konnte ihnen selbst von den ohnmächtigen Behörden nicht gesteuert werden. Aber auch bei diesen entarteten Naturen finden wir heroische Züge der Selbstaufopferung, der Hingebung, die als versöhnendes Princip uns diese rauhen, wilden Charaktere menschlich näher bringen. Diese edleren Saiten des menschlichen Herzens hat Danilewski in diesen Charakterbildern eben so erfolgreich wie der Amerikaner Bret Harte, der berühmte Biograph der californischen Vagabunden, anzuschlagen gewußt. Besonders ist ihm dies im zweiten Abschnitte seines Romancyklus: „In der zwölften Stunde“ (Bjeglije worotilis) gelungen. Mit wunderbarer Naturtreue und seltener psychologischer Intuition schildert er den Zustand des Hangens und Bangens der Flüchtlinge beim Auftauchen der dunkeln Gerüchte von der baldigen Aufhebung der Leibeigenschaft. Der Gedanke, den fortwährenden Alp der Angst, der Furcht vor Entdeckung endlich abzuschütteln, als freier Mensch unter seines Gleichen den Kopf zu erheben, den verlassenen Heimatsherd, Verwandte und Freunde wiedersehen zu dürfen, auf erlaubte Weise seine physische und geistige Kraft zum eigenen und der Mitbrüder Vortheil verwerthen zu können, tritt uns in dem Helden dieses Romanes wie in der ganzen Umgebung in Wort und Bild frappant, wahrheitsgetreu und doch betreffs des realistischen Hintergrundes ohne Verletzung des ästhetischen Schönheitssinnes entgegen. Den Abschluß der neurussischen Charakterbilder bildet ein dritter Roman: „Die Falschmünzer“ (Nowija Mjesta), der uns das idyllische Leben eines adeligen Ansiedlers in den Steppen Neurusslands schildert. Wir 5 glauben uns in eine südamerikanische Prairie versetzt, wir finden uns von dem ganzen Zauber umfangen, der uns aus den Bildern der neuen Welt in den Werken von Sealsfield und Gerstäcker entgegenweht. Und eben so wie dort bildet den Hintergrund dieser üppigen Natur, dieser malerischen Staffage die rauhe Wirklichkeit, der harte Kampf ums Dasein, die Hypercultur, die in der Sinnenlust, in allen Genüssen des Luxus den alleinigen Lebenszweck sieht, vor keinem Verbrechen zurückschreckt und mit Hohnlachen die moralischen Grundpfeiler der Gesellschaft und des Staates untergräbt. Dieser Roman bewegt sich in einer höhern Sphäre, man lernt die dortigen Adels- und Beamtenkreise kennen und wirft, auf wahrheitsgetreue Facta gestützt, tiefe Blicke in das dunkle Getriebe einer Menschenklasse, die keinen Anstand nahm, durch Fälschung von Creditpapieren, durch Verbreitung falscher Creditbillete nicht allein ihre zerrütteten Verhältnisse zu arrangiren, sondern auch dieses verbrecherische Treiben als Hebel zum Umsturze ihr im Wege stehender, verhaßter Institutionen zu benutzen. Ich beabsichtigte auf die „Pioniere des Ostens“ in Kürze „In der zwölften Stunde“ und darauf „Die Falschmünzer“ folgen zu lassen. Doch die neueste literarische Erscheinung Gregor Danilewski’s, welche die unmittelbare Gegenwart zum Vorwurfe hat und die durch Personificirung der vitalsten Zeitfragen, der Brennpunkte des socialen Lebens in Rußland, hohes, ja sensationelles Interesse erregte, veranlaßte mich, vorerst „Die Nonnenklöster in Rußland“ (Dewjati Wall) in deutscher Uebertragung der Oeffentlichkeit zu übergeben. Danilewski hat in diesem Werke entschieden mit den alten Traditionen gebrochen und eine eigene, selbständige Bahn betreten. Nur einzelne Nachklänge erinnern uns an die byronische Zerrissenheit Puschkins und Lermontoffs, an den Idealismus der vierziger Jahre, dessen 6 Treibhauscharaktere mit der Wirklichkeit in ewigem Hader lagen und die bei all ihrem Enthusiasmus für eine höhere Ordnung der Dinge durch ihre pessimistische Weltanschauung unproductiv verkümmerten. Eben so emancipirte er sich auch von der Schule Gogols, deren Jünger in sklavischer Nachahmung, ja Karrikirung ihres genialen Meisters eine eigene Spitzbubenliteratur à la Tschitschikow schufen. Danilewski hat sich gleichfalls auf den Markt des Lebens gestellt. Als Kind seiner Zeit nahm er die neue Aera des Reiches, die alle socialen Zustände umwandelnden Reformen als Ausgangspunkt seines Romanes.
Den eigentlichen Angelpunkt aber bildet die religiöse Frage, diese offene Wunde, an der die Menschheit schon seit so vielen Jahrhunderten krankt, an deren jeweiligen Nothverbänden die Kirche wie der Materialismus, die Mystik wie die Naturphilosophie, die Politik wie der Darwinismus unbarmherzig herumzerren. In diesem Romane weht wie in der ganzen gesellschaftlichen Bewegung Rußlands ein frischer Luftzug, ein neuer, belebender Geist, der die todten Massen auszuscheiden, das Chaos der Meinungen und Grundsätze zu sichten, neue Formeln zu finden strebt, um bessere, edlere Gestaltungen an die Stelle der morschen Reste der Vergangenheit zu setzen. Das Leben der Gegenwart ist dem Verfasser ein von Stürmen gepeitschtes Meer, die Winde heulen, die Brandung braust, die Wogen und Wellen spülen Menschen und Dinge fort und mit ihnen die Festen des Aberglaubens, das tiefwurzelnde Gestrüpp der Vorurtheile. Der Roman führt daher auch im Russischen den Titel: „Die neunte Welle“ mit dem Motto aus Ovids Metamorphosen XI. 529-532: So, da erbitterte Flut an die ragenden Seiten hinausschlug, Stürzt in erhöhetem Schwung die zehnte Welle mit Macht her, Und steht eher nicht ab den ermatteten Kiel zu bestürmen, Bis sie am Ende den Wall des eroberten Schiffes erstiegen. 7 Dieses Bahnbrechen der neuen Aera, dieser Kampf der Nihilisten und Positivisten, der Altconservativen und Idealisten, dieses Aufeinanderplatzen der Geister tritt uns in Fleisch und Blut, in der spannendsten Erzählung, in den interessantesten Situationen und in Charakteren entgegen, die als Typen ihrer Gattung aus dem Leben gegriffen und von der Hand des echten Künstlers in die Linien des Schönen eingerahmt, ein überraschend wahres und getreues Spiegelbild der Zeit vorführen. Der Held des Romans, Anton Lwowicz Wetlugin, der Repräsentant des jungen Rußland, gehört, was als charakteristisch hervorgehoben zu werden verdient, weder dem Adels- noch dem Beamtenstande an, er stammt weder von Kaufleuten noch von Bauern. Er ist das Kind eines Gymnasiallehrers, eines unverfälschten Idealisten vom reinsten Wasser, der eine Erdscholle, die er unter dem Fußtritte eines berühmten Literaten aufgehoben, als Reliquie aufbewahrt. Der junge Wetlugin hat die Rechtsstudien absolvirt, ist aber kein Doctrinär. Er erhält die Weihe für die schwere Lebensschule im Lande des Exils, wo er sich seine ersten Arbeitssporen verdient und die Intelligenz gleichsam figürlich ihren Bund mit dem Volke schließt. Er wurde nach Sibirien verbannt, weil er einen impertinenten Collegen, einen Generalssohn, die Treppe hinunter warf und kehrt als Bediensteter sibirischer Kaufleute, aber auch als gereifter Mann, der die Lebensfragen seiner Zeit in Erwägung gezogen hat, in seine Heimat zurück. Da bietet sich ihm in mannigfachen, zu verschiedenen Katastrophen sich naturgemäß verschlingenden, echt dramatischen Scenen vielfach Gelegenheit die psychologischen Processe im Denken, Zweifeln, Wünschen und Streben der Gesellschaft vor seinen Augen sich vollziehen zu sehen. Theils beobachtend, theils mitwirkend greift er ins bewegte Rad des autonomen, zum Selbstbewußtsein gelangten öffentlichen Lebens, um als Kind der Menge mit ihr 8 zu fühlen, mit ihr zu leiden. Als Repräsentant des Fortschrittes, als Mann der That steht Wetlugin nicht an, eben so der idealen Richtung seines Vaters, dann des alten Grundherrn Weczerejew und seines Schulkameraden Stolesznikow entgegen zu treten, als mit Energie und der Entrüstung des Ehrenmannes die infamen Grundsätze und das Raubsystem eines Kloczkow und Taliszczew zu bekämpfen. Es läßt sich aber nicht läugnen, daß unser Held bei all seinem Ritterthume des Geistes hier und da Hamletische Anfechtungen hat und sich in bangen Zweifeln wiegt. Bei entschiedenerem Auftreten hätte er vielleicht den gordischen Knoten oder richtiger die von der frommen Aebtissin geschürzte Intrigue zerhauen, die Geliebte aus den Mauern des Klosters gerettet und seinen Vater aus den Klauen des modernen Gründers gezogen. Unser Held läßt gar oft die Ereignisse ruhig an sich herantreten, statt den Gang derselben wie sie selbst zu beeinflussen. Doch müssen wir gestehen, daß in diesem seinen psychologischen Zuge der Beweis der wahrheitsgetreuen Charakteristik, der idealen Verkörperung der jungen Generation liegt, deren Repräsentant eben Wetlugin ist. Bei allem Kunstwerthe des vorliegenden Werkes ist es besonders hervorzuheben, daß wir hier einen vollkommenen Mikrokosmus des Lebens und Treibens der russischen Gesellschaft in gewissen Kreisen, eben so wie ein getreues, mit dem Pinsel eines echten Künstlers entworfenes Bild des Lebens in einem russischen Nonnenkloster vor Augen haben. Während ich diese Zeilen niederschreibe, tauchen eben so wie beim Lesen und Uebertragen dieses Buches die Erinnerungen meiner Jugend vor mir auf. Ich wandle durch die Straßen Charkows, der Hauptstadt der Ukraine, oder richtiger des Charkower, Pultawer und Czernigower Gouvernements, dem Sitze einer Universität, eines Erzbischofs 9 und eines Generalgouverneurs. Am geräuschvollen Bazar mit den reichen Läden in eine Seitengasse einbiegend, glaube ich das Häuschen vor mir zu sehen, in dem der alte Leo Sawicz Wetlugin, früher wohlbestallter Gymnasiallehrer, seine Blumen und seinen Kohl pflegte, die Kochinchinahühner und Kaninchen fütterte und dann vor dem Bilde Lomonossows mit Entzücken Derzawins Ode an Gott las. Ich finde es ganz natürlich, daß der gute Alte in flammender Begeisterung beim Anbruche der neuen Aera sogar am Gründungsschwindel, versteht sich zum eigenen Schaden sich betheiligte, um nur die Mittel zu erlangen, nun die Befreiung von oben gekommen, durch Gründung einer Armenschule in seiner Weise die Würdigkeit der Freiheit von unten herauf zu fördern.
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