Wenn es zum Herbst ging, kamen die Möwen bis zu den Häusern im Kolk. Sie saßen auf dem Geländer der Holzbrücke, die über den Wasserlauf führte oder umkreisten die breiten Kähne, die hin und wieder sich langsam vorbeischoben, um ihre Ladung nach der Zuckerfabrik hinter dem Damm zu bringen und von dort mit neuer Fracht wieder auf die Reise zu gehen. Die heiseren Schreie der Möwen erfüllten tagsüber die schmale Straße. Seit Jahrhunderten sind sie die Gefährten der Seeleute, sie bewachen die Einfahrt und Ausfahrt der Schiffe, fast ist es so, als wären die bangen Abschiedsgrüße der Frauen am Ufer während all der Zeit in den Klang der Möwenstimme übergegangen, ihre Besorgnis, ihre Angst und ihre Warnung. Diese plumpen, zärtlichen Vögel schwebten, von gleichmäßigem Flügelschlag gehalten, wie eine weiche Wolke über dem Leben im Kolk. »Die Möwen sind da«, sagte der Invalide Anton Olkers. Er war verwundert darüber, daß es schon so spät im Jahre sein sollte, denn in dem winzigen Garten neben Barbe Wiels Haus blühte noch eine Rose so, als könnte sich der Sommer nicht vom Kolk trennen. Barbe Wiel stand vor der Türe und nickte zu Olkers hin. »Die Möwen sind da«, wiederholte sie. Ihre Sprache war betulich und trug jede Neuigkeit wie ein großes Ereignis. »Es geht zum Winter, die Möwen kommen schon von der See«, sagte der Invalide noch einmal nachdenklich, ehe er an der Frau vorbei über die Brücke ging. Unter seinem schwerfälligen Schritt klang die Brücke dumpf wie ein Faß. Die Möwen stoben von dem Geländer auf. Für einige Minuten war ein wirres Kreischen. Atze Uhlig öffnete die Tür seines Ladens und sah neugierig in den schwirrenden Möwenschwarm. Er hielt noch die Schaufel in der Hand, die er zum Abwiegen des Mehls gebrauchte. »Die Möwen sind da«, sagte er vergnügt vor sich hin. Wenn es zum Herbst ging, waren die faulen Monate des Sommers vorbei, in denen man nie wußte, wie die Menschen eigentlich lebten. Erst wenn die Tage kälter wurden, besannen sie sich darauf, daß sie auch Petroleum, Wolle und vielerlei Dinge gebrauchten, die Uhlig zu verkaufen hatte. Das alles gab es in seinem Laden. Es war erstaunlich, wie Atze Uhlig all diese Schätze in Regalen, Säcken und Fässern in dem engen Raum untergebracht hatte, so daß immer noch Platz für Menschen war, die beim Einkauf einen kleinen Schwatz liebten. Barbe Wiel aber hatte das Recht, stundenlang auf einem Stuhl zwischen den Fässern zu sitzen und an allen Gesprächen teilzunehmen. Dafür stellte sie abends für ihn einen Teller Suppe bereit, zu dem er die Zutaten lieferte, und später noch eine Tasse Kaffee, bei der man die Neuigkeiten durchsprach, die man im Laufe des Tages in dem Laden gehört hatte. Sie besorgte ihm auch die Wäsche und half ihm, so gut es ging, die Stube in Ordnung zu halten. Atze Uhlig ließ sich ihre Obhut gefallen.
Wenn man vierzig Jahre lang am Schürzenband der Mutter gelaufen ist, hat man kein Zutrauen mehr zu jungen flattrigen Röcken. In ihrer letzten Stunde hatte die alte Frau Uhlig den Sohn der Umsicht ihrer Nachbarin anvertraut, und es wäre undenkbar gewesen, daß einer von beiden sich dem Wunsche der Sterbenden entzogen hätte. So war alles im gleichen Schritt geblieben. Oft wundert man sich, wie wenig durch den Tod eines Menschen sich ändert. Eine Türe öffnet sich, ein Mensch wird hinausgetragen, aber ein anderer tritt herein und das Leben geht weiter. Uhlig stand am Geländer und warf den Möwen Brocken zu. Dabei ließ er die Ladentüre nicht aus dem Auge. Die Vögel schienen über seiner ausgestreckten Hand mit schlagenden Flügeln in der Luft zu stehen. Er lockte sie, aber sie waren noch zu vorsichtig, um ihm das Brot aus der Hand zu nehmen. Hinter dem Damm tauchte ein Kahn auf, der mit langer Stange von einem Mann in der Mitte des Wassers gehalten wurde, damit die Planken nicht mit der Steinwand des Ufers in Berührung kämen. »Holla, Atze Uhlig!« »Du, Löders, wieder im Land?« »Mit Kohlen für die Zuckerfabrik. Ich komme nachher zu dir.« »Tu das, wir haben uns lange nicht gesehen.« Der Kahn glitt schwerfällig vorbei. »Da bist du ja«, sagte Uhlig später, als Löders in den Laden trat. Zuerst wird hin und her geredet. Wie lange haben wir uns nicht gesehen, sagt man. Weiß Gott, wie die Zeit vergeht, und alles gut bei Wege? – Nun ja, so so. – Es sind böse Zeiten und jeder hat sein Päckchen zu tragen. Man muß zusammenhalten, versichert man einander. Darauf trinkt man eins. Machandelschnaps ist immer gut. Auch am frühen Morgen. Wenn es, wie jetzt, auf Mittag geht, belebt er den Appetit. »Nehmen wir noch einen«, sagt Löders, »einen für den Magen, einen fürs Herz.
Das macht Mut.« Er hat sich auf das Faß gesetzt und sieht zu, wie Uhlig das Mehl abwiegt. Es ist alles gesagt. Nach einem Weilchen beginnt Löders: »Du kennst mich von Kind auf, Atze«, sagt er, »wir sind Freunde.« »Das sind wir«, antwortet Uhlig und wiegt weiter ab. Es ist schönes weißes Mehl, schneeweiß ist es und ohne jedes Tüpfelchen. »Da ist kein Mausdreck zwischen«, sagt Uhlig. Aber Löders hört nicht hin. Er will sich in seinem Gedankengang nicht stören lassen. Er geht jetzt grade aufs Ziel los. »Jawohl, wir sind Freunde. Das sind wir«, wiederholt er. Er hat was auf dem Herzen, denkt Uhlig, das merke ich doch, und aus seiner Gutmütigkeit heraus fragt er: »Wo brennt’s, Löders?« Ja, das ist eine verteufelte Geschichte. Man hat Pech gehabt. Man hängt bei seinem Geldgeber. Aber man wird schon wieder rauskommen. Gott sei Dank ist man ja kein Kerl, der sich unterkriegen läßt. Aber imAugenblick sitzt man doch verflucht drin. Wenn man jetzt jemand hätte, der einem unter die Arme greifen könnte. Er kriegt alles auf Heller und Pfennig wieder. Dafür wird man schon grade stehen. »Du hast wohl zufällig nichts flüssig, Atze?« »Ich würde es ohne Bedenken tun. Das sei gesagt. Aber nun ist’s solche Sache, Löders. Man lebt selbst von der Hand in den Mund.
Auch muß man immer wieder was einkaufen und bar bezahlen. Wenn man erst anfängt, Kredit zu nehmen, dann schnürt’s einem bald den Hals zu. Wie soll man hier in dem kleinen Laden auch zu Reichtümern kommen? Ist ja alles nur ein Pfenniggeschäft.« »Weiß ich, weiß ich, Uhlig. Kenn ich selber! Was kommt heute schon dabei heraus, selbst wenn man sich von morgens bis abends schindet. Was hilft’s. Trinken wir noch einen.« Nun geht er, die Hände auf dem Rücken, nachdenklich auf und ab. Die Kinder von Stam Öffgen kommen in den Laden. Als andere noch Milchbrei und Pamps bekamen, hat Stam sie schon mit Heringen gefüttert. »Erst fressen wir sie, dann fressen sie uns«, sagt er von den Fischen. Sein Vater und sein Großvater sind draußen ertrunken, und jedesmal, wenn er wieder auf See geht, sagt er zu seiner Frau: »Ein Jahr warte wenigstens.« Florentine Öffgen ist eine bleiche schmale Frau. Sie hat vom Leben nichts mitbekommen als ihren Namen. »Tina« wird sie von ihrem Manne gerufen. Er ist stolz darauf, daß ihr Vater bei der Post angestellt war und daß sie selbst im Hause eines Reeders gedient hatte. Damals, als Stam Öffgen sie kennenlernte, war er bei der Marine. Sie tanzten sonntags zusammen. Tina war ein Mädchen, mit dem man sich sehen lassen konnte. Als sie dann heirateten, zogen sie in die Stadt, denn Tina wollte nicht auf dem Dorfe leben. Stam Öffgen hatte gedacht, sich selbständig zu machen, ein Boot zu kaufen und auf Fischfang zu gehen. Auch ein kleines Haus hätte man haben können, einen Garten und ein Stück Vieh. Nun mußte er sich Arbeit in der Stadt suchen und kam in der Zuckerfabrik an. Es war schließlich gleichgültig, auf welche Weise man seinen Lebensunterhalt verdiente. So dachte er anfangs, aber bald stellte er mit Verwunderung fest, daß ihm eine Unruhe im Herzen saß.
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